Empfehlung

Boybands sind tot, es lebe die Boyband!

BACKSTREET BOYS und NEW KIDS ON THE BLOCK sind wieder da. Im Doppelpack ziehen sie gerade durch nicht ganz ausverkaufte Hallen. Um der alten Zeiten und der Altersvorsorge willen. Die Tonlage der entzückten Schreie vor der Bühne ist um ein Oktave gefallen, es blitzen nun Lesebrillen statt Zahnspangen im gleißenden Gegenlicht, vielleicht spielen sie bald mit den Flippers und Status Quo in Heuschobern. Der Musikdozent UDO DAHMEN erklärt in der TAZ, dass Boybands mit dem ersten Freund der Teeniemädchen durch anspruchsvollere Musik abgelöst werden. Besonders wenn der Freund Hip Hop hört. Das mag in den Zeiten von Eurodance gegolten haben, die derzeit erfolgreichste Boyband der Welt jedoch kommt aus Südkorea und hat mit Hiphop angefangen.

Sie heißt BIG BANG. Der Sound mäandert zwischen Mainstream amerikanischer Prägung und triefenden Schnulzen, vorgetragen von verwegen bemützten Kids. Aber irgendetwas ist anders. Auf das Narrativ des sozialen Aufstiegs oder im Sandkasten geschlossener Männerfreundschaften verzichten BIG BANG, ihr Leitmotiv heißt Entertainment. Die koreanischen Boys erfuhren einen Drill wie sonst nur die Leichtathleten im sozialistischen Norden. Der Betreiber des Labels YG las die Jungs von der Straße auf, und das heißt in Südkorea natürlich etwas anderes als in East Harlem: Der Vorstadtidylle entrissen, um von nun an für den Ernstfall am offenen Herzen asiatischer Mädchen zu trainieren. Nur einer von ihnen, DAESUNG, ist gecastet. Er ist nicht hübsch, sondern talentiert. Man kann den sechs Jungs, natürlich ein Spektrum an Typen abdeckend, gleichwohl sorgsam bartlos, dabei zusehen, wie sie in den letzten acht Jahren von unbeholfenen Usherepigonen zu Helden der Unterhaltung heranreiften. Harte Arbeit vor der Spiegelwand, das Spiel mit der Kamera in tausendfacher Wiederholung. Wie Sportler sehen sich die Koreaner ihre Fehler auf dem Bildschirm an, einen Stab von Choreographen und Gesangslehrern an der Seite. Das konfrontativ vorgeschobene Kinn hier, die beiläufige Handbewegung dort, alles muss sitzen. Nach der Tanzschule Japanischunterricht, der gesamte Pazifikraum wird bedient, die Songs jeweils neu eingesungen.

Bei all dieser Zurschaustellung asiatischer Akribie kommt der Zuschauer nicht umhin, die Parallele zu Produktfälschungen zu ziehen. Allein, in diesem Fall ist das Ergebnis besser als das Original. TAEYANG etwa, der Posterboy der Gruppe, ist längst so gut wie seine amerikanischen Vorbilder. Das Pingpongspiel der Kulturen befindet sich bereits in vollem Gange, die überspitzte Imitation kommt in Nordamerika und Europa bestens an. Koreanischer Pop wird hier gleichsam von hello-kitty-affinen Mädchen und jungen Hipster-männern aufgegriffen – wenn die reziproke Stilvermengung wie im Falle von BIG BANG gelingt. Auch in der Wahl ihrer Producer können sich BIG BANG gegen die aalglatte Konkurrenz, etwa die chinesisch-koreanische Band EXO, abgrenzen. Während dort die wunderbar losen Grenzen des Geschmacks der asiatischen Turbojugend geradezu unterfordert werden, schickt der brillante Producer DIPLO seine Beats ganz selbstlos zu den Jungs von BIG BANG. Die seien nämlich „richtig gute Rapper“. Das Resultat der Zusammenarbeit wird ein Riesenhit. Obwohl, oder gerade weil der Text geht: „They say bubble, bubble, double, double – combo“.

Was klanglich immer manieriert bleibt, wird in teuren Musikvideos zum spektakulären Ritt durch den Zitatedschungel. Im Video für den Song „Fantastic Baby” räkeln sich wahnwitzige Frisuren zu niedrigbittigen Versatzstücken früher Unterhaltungselektronik und dem anglo-koreanischen Kauderwelsch ihrer Träger. Einer der Boys sieht aus wie der Sänger von HUMAN LEAGUE, mit dem nächsten Wimpernschlag erscheinen plötzlich die Masken von DAFT PUNK. Oder halt, nur so ähnlich. Mehr wie der Visor eines japanischen Rollenspielcharakters. Und DAFT PUNK verehren japanische Animations- filme. Das Prinzip Boyband wird pädagogisch wertvoll von biederen Deutungsmustern befreit und um Superheldentum und Kostümspiel erweitert. Nach dieser fernöstlichen Nadeltherapie auf dreieinhalb Minuten tränen die Augen, das Quecksilber läuft fröhlich über die Tastatur. „Fantastic Baby” schaffte es auf dem Hipsterportal STEREOGUM sogar zum Video der Woche.

Als Projektionsfläche eignen sich die sechs Zweckfreunde indes kaum. Sie sind Gefangene einer irgendwie bigotten Wertegesellschaft. Als der Frontmann GDRAGON in einem Tokioter Club mit Marihuana gesichtet wurde, kam gleich am nächsten Tag die gespielte Empörung in Form einer Pressemitteilung des Labels. Freilich habe der Sänger noch nie Marihuana konsumiert und den feilgebotenen Joint eines Fans für eine harmlose Zigarette gehalten. Rauchen ist in Asien schließlich voll okay. Das gleiche wiederholte GDRAGON, flankiert von seinen mit falschen Tattoos bemalten Bandkollegen, dann in einer Talkshow. Er und die anderen sind schließlich Botschafter des Konsums. Manch ein Song wird schon mal eigens für die Kampagnen der koreanischen Mobil- funkunternehmen geschrieben.

Das erklärt vielleicht, warum YG ENTERTAINMENT mit gerade mal zehn Einzelkünstlern und Teeniebands einen Umsatz von über 50 Millionen Dollar einfährt und kurz vor dem Börsengang steht. An diesem Phänomen, Badboytum als choreographierte Verschwörung, perlen die Argumente der Sozialforschung ab, die Durchdringung des fremden Kulturkreises obliegt eben der koreanischen Forschung. Ihr mangelt es gottlob an Selbstre- flexion. Im Land neben dem Land der aufgehenden Sonne sind sie heilsam geblendet von einer popkulturellen, äh, Kernschmelze.

PAUL SOLBACH betreibt das Berliner Start-up DU.SAGST.ES

5 Fragen an

NATE WILLIAMS ist eine wichtige Größe in der Welt der Illustration. Zwei bedeutende Design-Plattformen hat er ins Leben gerufen: LETTER PLAYGROUND, die eine Heimat für Fans handgemachter Schriftarten ist und ILLUSTRATION MUNDO, auf der kreative Köpfe ihre Liebe zur Illustration, Animation, Schrift und allem, was dazwischen liegt, miteinander teilen können. Über diese Community-Projekte hinaus hat der US-Amerikaner über die Jahre ein umfangreiches Werk geschaffen: Eine versponnene Welt aus Löwen, Allraketen und handgemalten Schriftarten. CARTOUCHE stellte dem Designer fünf Fragen über seine Arbeit, seine Einflüsse und seinen Alltag.

1. Wiederkehrende Themen in meiner Arbeit…?

… gibt es drei. Das erste Thema lautet: BE AWARE OF NEWS AND ENTER- TAINMENT. Vor langer Zeit habe ich aufgehört, den Nachrichten zu trauen. Der Grund dafür waren die Anti-WTO-Proteste in Seattle 1999. Die Medien übertrieben damals maßlos. Klar, es gab Ausschreitungen, die ganze Stadt hat trotzdem nicht gebrannt. Ich war selbst vor Ort und konnte mir mein eigenes Bild von der Situation machen. Meine Freunde riefen mich an, nachdem sie die Schreckens-Berichte im Fernsehen gesehen hatten, um mich zu Fragen, ob ich wohlauf sei. Das fand ich sehr unheimlich.

Das zweite Thema ist LOVE AND OPTIMISM. Die Nachrichten können dir glauben machen, dass es nur Schlechtes auf der Welt gibt. Wenn du aber den Fernseher abschaltest, nach draußen gehst, reist und dich mit Freunden triffst, dann merkst du, wie schön der Planet ist, auf dem wir leben. Ich glaube an das Gute im Menschen, dass wir uns in Wirklichkeit alle lieben und gegenseitig aufeinander achten.

Das letzte wichtige Thema heißt NURTURE YOUR SUBCONCIOUS, es ist inspiriert von meiner Zeit bei MICROSOFT, wo ich lange als Webdesigner tätig war. Zwar war der Job dort eine interessante Erfahrung für mich, denn fehlte mir das Intuitive, das Unterbewusste. Da ich das nicht missen wollte, rief ich das Zine HOLA MIGA ins Leben. Wenig später entschied ich mich dazu, das Projekt auszuweiten und dehnte die Erkundung meines Unterbewusstseins auf andere Bereiche meines Leben aus. Ich lernte Sprachen, lebte in einem anderen Land, erweiterte mein Wissen über Geschichte und die Natur und, das ist das wichtigste, nahm mir Zeit, zu denken, zu hinterfragen, zu entdecken und neue Erfahrungen zu sammeln.

2. Ich habe eine Leidenschaft für handgemachte Schriftarten, weil…?

… sie den Worten eine Stimme geben. Auf einem unterschwelligen Niveau erzählt eine Schriftart dem Betrachter, wie er ein Wort zu interpretieren hat, genauso wie bei einem Horrorfilm die Musik. Ohne die richtige Hintergrund- musik würde kein Gruselstreifen bestehen!

3. Meine wichtigsten visuellen Inspirationen sind…?

{Punk Flyers aus Berkley}

{Mexikanische Holzschnittkunst}

{Nahrungsmittelverpackungen aus Japan}

{Marisol Escobar}

{Picasso}

4. Mein gewöhnlicher Arbeitstag…?

… beginnt damit, dass ich mich um meinen Sohn kümmere und ihn zur Schule bringe. Ist das erledigt, treffe ich mich mit einem Freund zum Kaffee oder ich gehe in den Park, um mir ein paar neue Ideen zurechtzulegen und Skiz- zen anzufertigen. Wenn ich nach Hause komme, beantworte ich Emails und widme mich den Dingen, für die ich einen Computer brauche. Später gehe ich dann ins Fitnesscenter oder raus zum Joggen, drehe mit meinem Hund eine Runde, esse Mittag und hole schließlich meinen Sohn von der Schule ab. Am Nachmittag unternehme ich dann etwas mit ihm. Entweder gehen wir in den Park, fahren Fahrrad, malen oder spielen, lesen etwas oder schauen einen Film. Danach arbeite ich dann wieder für eine Weile, kümmere mich gemeinsam mit meiner Freundin ums Abendbrot und gehe noch einmal mit meinem Hund Gassi. Spät am Abend surfe ich dann im Internet, schaue Fernsehen oder lese.

5. Ein erfolgreicher Illustrator…?

… braucht einen einzigartigen Stil, technische Fähigkeiten, Marketingkenntnisse und die richtige Einstellung. Ich habe einen Artikel zu dem Thema geschrieben, er heißt „How to start your Illustration Career„.

Links: n8w / hola amiga / alexander blue / illustration mundo / letter playground

JAMIE JONATHAN BALL illustriert und erzählt Geschichten unter dem Synonym LITTLE KINGDOMS EU. Er wurde das letzte mal in Nordindien gesehen.

Foto: NATE WILLIAMS

 

Gespräche

SEBASTIAN COWAN hat eine simple Lebensphilosophie: „Stehe früh auf und nutze den Tag”. Sein Erfolg gibt ihm Recht. Gerade mal 25 Jahre alt ist der gelernte Toningenieur aus Vancouver Chef seines eigenen Labels ARBUTUS RECORDS und Manager von Kritikerliebling GRIMES. Davor war er Betreiber einer der wichtigsten Live-Venues in Montreal, dem LAB SYNTHÈSE, das er im Alter von 21 Jahren mit ein paar Freunden eröffnete. Im SKYPE-Gespräch mit CARTOUCHE sprach SEBASTIAN über den Konzertraum, sein Label ARBUTUS RECORDS und die Musikszene Montreals. Auch verriet er, warum er so gerne früh aufsteht.

Guten Morgen SEBASTIAN, wie geht es dir?

SEBASTIAN: Ganz gut soweit. Ich habe schon einiges erledigt heute, ich war bei der Bank und auf der Post und habe gerade ein zweites Mal gefrühstückt. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch im Büro von ARBUTUS RECORDS.

Du stehst also gerne früh auf? 

Richtig, gewöhnlich schon um sieben! Ich liebe den Morgen, ich kann dann besser arbeiten. Abends gehe ich zeitig ins Bett.

Das klingt sehr vernünftig für jemanden der 25 Jahre alt ist. In Berlin ist man in diesem Alter einen ganz anderen Rhythmus gewöhnt, hier beginnt der Tag in der Regel etwas später.

In Montreal ist das nicht anders. Die meisten meiner Freunde gehen spät ins Bett und schlafen dann aus. Das ist einfach nicht mein Ding. Ich nutze lieber den Tag.

Mit Erfolg. Du warst Betreiber einer erfolgreichen Musikvenue und hast jetzt dein eigenes Label. Wann wurde deine Leidenschaft für Musik geweckt?

In der Highschool. Einige meiner Freunde waren richtige Musiknerds und steckten mich mit ihrer Begeisterung an. Ich hörte alles, was ich kriegen konnte. Kurz darauf fing ich an, in mehreren Bands Schlagzeug zu spielen. Als ich dann später in London studierte, machte ich elektronische Musik. Die Alben, die WARP RECORDS in den 90ern herausgebracht hat, hörte ich damals rauf und runter.

Wie kamst du auf die Idee, eine eigene Venue in Montreal aufzumachen?

Nach meinem Studienabschluss in London wollte ich mein eigenes Ding durchziehen. Die Idee für die Venue stand bei mir uns meinen Freunden schon länger im Raum. Die Frage war nur wo. Wir haben uns für Montreal entschieden, weil die Stadt der perfekte Ort für Kunst und Musik ist. Das Leben hier ist so billig, dass du auch ohne Job gut über die Runden kommst. Acht Monate nachdem wir das LAB SYNTHÈSE aufgemacht hatten, beging einer von uns, mein bester Freund DAVID, Selbstmord. Das war ein großer Wendepunkt in meinem Leben. Ich verließ Montreal und ging zurück nach Vancouver. Die anderen beiden taten es mir gleich.

Und was wurde aus dem LAB SYNTHÈSE?

Das hatte ich eigentlich schon abgehakt. Ich wollte nicht mehr zurück nach Montreal. Doch dann rief mich eines Tages mein Bruder ALEX an und sagte mir, dass in dem Projekt noch eine Menge leben stecke. ALEX war kurz zuvor in das Lagerhaus gezogen, in dem sich die Venue befand und in dem damals alle wohnten. Seine Worte hatten mich überzeugt. Ich sagte mir, es ist besser etwas zu tun, als nur rumzuhängen. Nach meiner Rückkehr hatte ich den Plan aus dem LAB SYNTHÈSE ein großes Gemeinschaftsprojekt zu machen. Auf jedem Konzert sollte mindestens ein Freund von mir spielen. In dem Zeitraum wuchs mein Freundeskreis rasant.

Warum hat du ARBUTUS RECORDS gegründet?

Bei LAB SYNTHÈSE ging es nach DAVIDS Tod darum, Freunden zu helfen und ihnen eine Plattform zu bieten. Da ich sie auch außerhalb des LAB SYNTHÈSE unterstützen wollte, beschloss ich ein Label aufzumachen. Mit der Zeit wurde das Label immer wichtiger für mich, weswegen ich mich dazu entschied, die Venue dicht zu machen. Diese Entscheidung war wie so viele andere zuvor rein intuitiv. Ich denke über solche Dinge nicht lange nach, es passiert einfach.

Wie laufen die Geschäfte bei ARBUTUS RECORDS?

Ich kann mich nicht beklagen, wir wachsen stetig! Zwar wirft das Label noch kein Geld ab, aber ich bin sicher, das ist nur eine Frage der Zeit.

Wovon lebst du dann im Moment?

Ich verdiene mein Geld als Tontechniker in Clubs. Aber ich glaube, ich werde das bald sein lassen. Auch wenn es nicht sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, ist es sehr anstrengend, zusätzlich zu meinem Job bei ARBUTUS RECORDS die ganze Nacht zu arbeiten. Ich brauche Zeit, um mich auszuruhen.

Ich finde es sehr mutig gerade jetzt ein Label zu gründen. Schließlich stecken Musiklabels seit Anbruch der digitalen Revolution in ihrer größten Krise.

Labels haben in der Tat an Bedeutung verloren, weil man sich heute um vieles selbst kümmern kann. Man kann seine Alben zuhause am Computer aufnehmen und anschließend über das Internet vertreiben. Einen PR-Agenten und einen Booker anzuheuern stellt ebenfalls kein großes Problem dar. Das war vorher viel schwieriger. Dennoch können Labels sehr nützlich sein, besonders für kleinere Bands sind sie noch immer eine gute Option.

Inwiefern?

Labels haben in der Regel gute Beziehungen, weil sie schon lange im Business sind. Versuch mal als unbekannter Künstler einen Vertrag mit einem Vertrieb zu den selben Konditionen auszuhandeln, wie WARNER BROTHERS RECORDS sie bekommt – das ist unmöglich!

Dennoch scheinen die Tage klassischer Labels gezählt zu sein. Was macht ihr besser?

Wir verlegen nicht nur Musik, sondern kümmern uns auch ums Management. Das hat klare Vorteile: Da du dem einzelnen Künstler auf allen Ebenen zur Seite stehst, entwickelt sich eine viel engere Beziehung. Dadurch weißt du immer, was der jeweilige Künstler braucht.

Anders als andere Labels verkauft ihre eure Musik nicht nur, sondern bietet an, sie gegen eine Spende oder kostenlos herunterzuladen. Warum?

Das ist einfach: Was einem Künstler am Anfang seiner Karriere am meisten hilft, ist, dass so viele Menschen wie möglich seine Musik hören. Wenn du deine Musik verschenkst, erreichst du selbst diejenigen, die sich gar nicht für die Musik interessieren. Mit dem Debütalbum Geidi Primes von GRIMES sind wir so verfahren und hatten damit großem Erfolg.

Und wie läuft es mit den Spenden?

Auch sehr gut. Jeden Tag spenden im Schnitt zwanzig Leute Geld. Zwar verdienen wir damit nicht so viel wie durch Verkäufe, dennoch sind die Spenden eine gute zusätzliche Einnahmequelle.

Wäre das also ein Modell für die Zukunft?

Die Zukunft liegt eindeutig im Streaming, da Hörer und Künstler davon gleichermaßen profitieren. Die einen können sich Musik kostenlos anhören, die anderen bekommen für jeden gehörten Song einen festen Betrag ausgezahlt.

Seit neuestem kann man einem Sampler mit verschiedenen Bands aus Montreal kostenlos auf der ARBUTUS-Internetseite herunterladen. Sind all die Bands auf dem Sampler ebenfalls Freunde von dir?

Ja, das sind sie. Alle Bands kommen aus dem Umfeld des LAB SYNTHÈSE. Du musst wissen, dass die Bands auch untereinander gut befreundet sind. Viele der Musiker spielen in der Band des anderen. Das liegt zum einen daran, dass wir alle Englisch sprechen und somit eine Minderheit in Montreal sind. Zum anderen leben wir alle im selben Viertel, weshalb wir uns oft sehen. Ich liebe diesen Vibe.

Das klingt in der Tat verlockend. Welche Rolle spielte das Lab Synthèse für die Szene?

Eine sehr große: Die meisten Bands haben im LAB SYNTHÈSE ihre ersten Live-Erfahrungen gesammelt. Andere wiederum waren so begeistert von der Atmosphäre, dass sie ihre eigene Band gründeten. So auch GRIMES. Bevor CLAIRE BOUCHER anfing im LAB SYNTHÈSE abzuhängen, hatte sie hauptsächlich gemalt. Eines Tages zeigte sie meiner damaligen Freundin einen Song, den sie aufgenommen hatte. Ich war so beeindruckt von ihrer Stimme, dass ich sie unbedingt auf ARBUTUS RECORDS rausbringen wollte. Sie willigte ein und so nahmen wir kurze Zeit später ihr Debütalbum Geidi Primes auf.

Wer hat die Nachfolge des LAB SYNTHÈSE angetreten?

Es gibt viele gute Konzerträume in der Stadt. Einer davon ist die Loft-Venue LA BRIQUE. Dort gibt es nicht nur eine Bühne, sondern auch Proberäume und ein Studio. Unser Büro ist dort ebenfalls unterge- bracht. Das Gebäude, in dem sich LA BRIQUE befindet, ist eine ehemalige Textilfabrik, die in den 60ern geschlossen wurde und in den 90ern von Künstler angemietet wurde. Das kennst du sicher auch aus Berlin!?

Richtig, die Stadt ist noch immer ein großer Abenteuerspielplatz. Hast du schon neue Pläne geschmiedet?

Nicht wirklich. Ich mache erstmal mit ARBUTUS RECORDS weiter, schließlich läuft es gerade sehr gut für uns!

Links: ARBUTUS RECORDS / MONTREAL COMPILATION VOL I / VOL II 

Foto: MARILIS CARDINAL

 

Portrait

LENNART ETSIWAH – ein Modefotograf mit eigenem Stil

Es ist ein verregneter Winternachmittag in Prenzlauer Berg. Im Café AN EINEM SONNTAG IM AUGUST drängen sich die Gäste, trinken warme Getränke, rauchen und unterhalten sich angeregt. Aus der Anlage dröhnt Raggae-Musik. Nicht die besten Bedingungen für ein Interview. LENNART ETSIWAH scheint der Trubel um ihn herum jedoch nicht zu stören. Ruhig und gut überlegt formuliert der Modefotograf seine Sätze. „Ich musste damals meinen eigenen Weg gehen”, sagt er lächelnd in Bezug auf sein abgebrochenes Abitur. In der Tasse vor ihm dampft heißer Kaffee, daneben qualmt eine Zigarette im Aschenbecher.

LENNART ETSIWAH, das wird schnell klar, weiß, was er will und was nicht. Seine Entscheidungen trifft er selten spontan. So ist auch der Entschluss, sein Abitur zwei Wochen vor der ersten Prüfung zu schmeißen von langer Hand geplant. Den Segen seines Vaters hat er. Diese Überlegtheit soll sich später fortsetzen: Seinem Kommunikationsdesign-Studium an der Hoch- schule für Angewandte Wissenschaft Hamburg geht ein Jahrespraktikum beim Medienbüro Hamburg voraus und die Gewissheit, dass mit Fotoreportagen kein Geld mehr zu verdienen ist. In der Modebranche allerdings schon, der er anfänglich noch skeptisch gegenübersteht. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit ihr kann die Zweifel zerstreuen, es reizt ihn die Welt zu sehen und das gehört als erfolgreicher Modefotograf zum Alltag.

Ästhetisch hat LENNART ETSIWAH eine klare Vision. Er steht auf Minimalismus. Nichts soll ablenken von den gezeigten Kleidern. Seine Arbeiten erinnern an die Ausdrucksstärke PETER LINDBERGHS, genauer: an das Portrait der jungen KATE MOSS, die der deutsche Fotograf in einer blauen Latzhose ablichtete. Beim Anblick von LINDBERGHS Bildern hat man das Gefühl zu versinken. Für einen Moment ist man gebannt von der Schönheit, die von ihnen ausgeht. LENNARTS Bilder strahlen eine ähnliche Aura aus. Weiches Licht verschwindet in der Unschärfe des Hintergrundes und lenkt den Blick gekonnt auf die starke, schnörkellose Pose und die Schönheit des Models. LENNART erzählt mit seinen Fotos eine Geschichte, die über das Gezeigte hinausgeht. Er lässt diese jedoch immer offen, wodurch die Fantasie des Betrachters angeregt wird. Auf diese Weise verleiht LENNART den Bildern eine für Modefotografie untypische Tiefe.

Genauso durchdacht ist seine Arbeitsweise. Von Markenfetischen bei Kameras hält LENNART nichts. „Eine Kamera trägt zu einem Foto nicht viel bei, das meiste geht vom Fotografen aus”, sagt der 27-Jährige. Seine erste Kamera war eine OLYMPUS OM 20, eine Spiegelreflexkamera, die er seinem Freund für 50 Mark abkaufte. Inzwischen benutzt er mehrere verschiedene Modelle. Auch die Frage, ob es besser sei analog oder digital zu fotografieren, betrachtet er weniger dogmatisch. Er selbst fotografiert am liebsten analog, wenn es die Zeit zulässt. Anschließend scannt er die Negative ein und bearbeitet diese auf dem PC. Auf diese Art bekommen die Fotos einen eigenen Charakter und gleichzeitig einen Wiedererkennungswert.

Den eigenen Stil zu finden, darum geht es LENNART auch privat. Entsprechend macht er sich nicht viel aus Trends. Im Klub trägt er auch mal gerne seine blaue Schlafanzughose, wenn er sich danach fühlt. LENNART hebt mit seinem Äußeren seine Stimmung hervor. „Wenn es mir gut geht, will ich das meiner Umgebung zeigen“, sagt er. Seiner Meinung nach ist es für die meisten Menschen einfacher in eine andere Persönlichkeit hineinzuschlüpfen, als ihre eigene zu entdecken. Und so kopieren viele oft Kleidung und versuchen jemand zu sein, der sie gar nicht sind.

Was sein späteres Berufsleben anbelangt, hat LENNART klare Vorstellungen. Statt für große Hochglanz-Zeitschriften wie die Vogue, möchte er lieber für kleinere Independent-Magazine arbeiten. An Indie-Magazinen wie I LOVE YOU schätzt LENNART, dass sie mehr Platz zum Experimentieren lassen und einem weniger strikten Raster folgen. Während seines Studiums arbeitete LENNART bereits an verschiedenen Produktionen in Deutschland und Europa mit. Das Geld, das er damit verdiente, steckte der Fotograf in eigene künstlerische Projekte, die nicht immer etwas mit Mode zu tun hatten. So ist er Autor eines Fotobuches, welches das Zusammenleben und die Trennung zweier Menschen thematisiert.

Sein nächstes Ziel hat LENNART bereits vor Augen: Er will seinen Master in New York City machen. Während eines dreiwöchigen Urlaubs hat er sich in die Stadt verliebt, sie in sich aufgesaugt und, wie so viele andere vor ihm, beschlossen wiederzukommen. Für ihn ist die Stadt kein Klischee, es gibt wirklich diese besondere Spannung und die unendlichen Möglichkeiten. „Man stellt einen Wunsch an das Universum und der wird in New York gleich erfüllt“. Die Leute dort würden einfach mehr an einen glauben. Nicht das er das nötig hätte.

MARIE-THERESE HAUSTEIN würde am liebsten jeden Tag ein Kleid von VLADIMIR KARALEEV tragen. Nachts träumt sie von New York.

Foto: DAVID BÖCKMANN

Inspiration

Fotograf: LENNART ETSIWAH

Mode & Styling: RAGNE KIKAS

Model: MARA DECLAIR (PMA MODELS)

Fotoassistent: TILLMANN ENGEL