Editorial

Liebe Leser_innen,

in der Popkultur dreht sich nach wie vor alles um die Vergangenheit. Gerade erst erschienen mit WES ANDERSONS Film Moonrise Kingdom und JAMES FRANCOS Roman Paolo Alto zwei weitere Werke, die sich mit der Kindheit und der Jugend auseinandersetzen. Ähnlich sieht es in der Mode und Musik aus, wo der Einsatz von Pastiche nicht mehr wegzudenken ist. Unermüdlich zitieren Designer_innen wie Musiker_innen aus vergangenen Stildekaden. Da ein Ende dieses Trends nicht abzusehen ist, sollte sich die Popkritik einmal mehr darauf konzentrieren, die einzelnen popkulturellen Produkte zu dechiffrieren und zu kontextualisieren.

Schließlich fragen wir heute viel zu selten, wo ein bestimmtes Zeichen herkommt. Alles wird vollkommen selbstverständlich kopiert und in neue Sinnzusammenhänge gesetzt. Genau um diese Problematik dreht sich der Text “Kollektives Vergessen” unseres Autors GUENTHER LAUSE. In ihm analysiert LAUSE was eintritt, wenn das Zitat von seinem Ursprung getrennt wird: Eine kulturelle Amnesie. Zum Glück gibt es verantwortungsbewusste Blogger wie NATHAN COWEN, der auf seinem Pictureblog HAW-LIN die Bildquellen angibt oder die Plattform TUMBLR, bei der man die Bilder zu ihrer Quelle zurückverfolgen kann. Sie sorgen dafür, dass nicht alle Spuren verwischen im endlosen Datenstrom des World Wide Web.

Der Verlust des Authentischen ist aber nicht das einzige Problem unserer digitalen Gesellschaft. Ein weiteres lässt sich formulieren: Durch die rapide Geschwindigkeit des Netzes hat die Berichterstattung über Popkultur an Tiefe verloren. Beim stetigen Weiterverlinken von Songs und Bildern ist vielen Blogs der Blick für die Personen hinter den einzelnen Werken abhanden gekommen. Wer kennt die Mitglieder seiner Lieblingsbands heute noch beim Namen oder weiß, welches Ziel ein Designer mit seiner Arbeit verfolgt? Ist das überhaupt wichtig? Wir finden ja! Aus diesem Grund finden sich in dieser Ausgabe ein Portrait des Modefotografen LENNART ETSIWAH sowie längere Gespräche mit der One-Man-Show CHRISTOPHER KLINE aka HUSH HUSH und dem Labelchef von ARBUTUS RECORDS, SEBASTIAN COWAN, in denen es um ihre Arbeit, ihr Leben und ihre künstlerische Vision geht.

Den Ansatz hinter die Kulissen zu schauen und sich Zeit zu nehmen für sein Gegenüber, hat ebenfalls die niederländische Fotografin QING QING MAO, die für ihre Buchserie The Leaf City Städte portraitieren will, indem sie mit den Leuten redet, die in ihnen leben und arbeiten. Für uns hat sie eine Auswahl an Fotos zusammengestellt, die sie im Mai für ihr Berlinbuch aufgenommen hat.

In diesem Sinne: Lasst uns für einen kurzen Moment innehalten.

Viel Spaß beim Lesen!

Die Redaktion von CARTOUCHE.

Empfehlung

A  VERY SPECIAL CHRISTMAS, NOW & THEN

Was würde sich als Analysegegenstand des Mainstreams besser eignen, als eine hochwertige Weihnachtskompilation, deren Erfolgsgeschichte mittlerweile drei Dekaden umspannt? Geboren in den tiefsten Achtzigern, bildet A Very Special Christmas seither das Spektrum der zeitgenössischen Moden ab und hat in mittlerweile sieben Teilen einen Erlös von über 100 Millionen US-Dollar zu wohltätigen Zwecken eingespielt. Mehr als jede andere Benefizaktion der Musikindustrie. Wir messen die aktuelle an der ersten Ausgabe und stellen mit wissenschaftlicher Nüchternheit die bahnbrechende These auf: Manches war früher einfach besser.

Die Marke A Very Special Christmas ist eine Erfindung von JIMMY IOVINE, Musikproduzent und gläubiger Katholik, der seinem verstorbenen Vater mit einem Weihnachtsalbum die letzte Ehre erweisen wollte. IOVINES Frau VICKI entwickelte 1987 die Idee eines Benefizalbums für die Paralympics. Alle waren begeistert, die Plattenbosse von A&M griffen tief in ihre Taschen, der nicht ganz jugendfreie Künstler KEITH HARING lieferte das Artwork. Auf der ersten Scheibe von ‘87 stehen große Namen: SPRINGSTEEN, PRETENDERS, MADONNA, RUN DMC, STEVIE NICKS, WHITNEY HOUSTON, BRYAN ADAMS und U2.

A Very Special Christmas entstand zu einem Zeitpunkt, als die Musikindustrie einen wirtschaftlichen Strukturwandel durchmachte. In der Süddeutschen Zeitung verortet JOHN MELLENCAMP diesen Prozess mit seiner Kulturkritik der Musikindustrie in die Periode der späten Achtziger und frühen Neunziger. „Plattenfirmen betrachteten sich auf einmal nicht mehr als Vermittler von Musik, sondern als Teil der Wallstreet-Manipulatoren. Firmen wurden übernommen, fusioniert, verkauft – Börsengänge folgten.“ Klangmaterial und Produktionsrahmen von A Very Special Christmas waren davon anfangs nicht betroffen, die ersten zwei Teile der Serie entstehen noch im ancien regime (MELLENCAMP ist übrigens auf Nummer Zwei zu hören). Auf welche Weise die sich ändernden wirtschaftlichen Parameter der Maschine Mainstream mit der Musik rückkoppeln, lässt sich an den späteren Ausgaben von A Very Special Christmas sehr gut abhören.

Um den Vorwurf der Unfairness gleich auszuräumen – die Verkäufe haben zwar nachgelassen, doch noch immer ist eine Menge Geld im Spiel und das Format lebt. Compilations wie Bravo oder Thunderdome gehen immer wieder, jede Generation scheint aufs Neue das Bedürfnis nach Weihnachtsliedern in der verpoppten Darbietung ihrer Contemporaries zu haben. Gerade erst bog THE BIEBER mit „Under the Mistletoe“ um die Ecke.

 SUPERSTARS VS MEGASTARS

Wie schneidet das mit Vierfach-Platin ausgezeichnete Original von 1987 nun gegen den neuesten Teil von 2009 ab? WHITNEY HOUSTON war fresh. RUN DMC sowieso. Das restliche Angebot reichte von alten Hasen wie STEVIE NICKS bis BRUCE SPRINGSTEEN. An ihrer Markttauglichkeit, die PRETENDERS waren seit 10 Jahren im Geschäft, gab es keinen Zweifel. NICKS steuerte zu FLEETWOOD MACS Monsteralbum Rumours aus dem Jahr 1976 mehrere Hits bei, SPRINGSTEENS großer Durchbruch gelang sogar ein Jahr früher mit „Born To Run“. NICKS und SPRINGSTEEN erlangten den Weltruhm gleichermaßen nicht über Nacht. Sie waren keine Sternchen oder Gelegenheitsjobber, angespült aus anderen Entertainmentsparten, um zum richtigen Zeitpunkt der Idee eines Marketingstrategen ihr menschliches Gesicht zu verleihen. Vielmehr hatten sie sich an den überaus intakten Durchlässigkeitsfiltern des Mainstream vorbeigekämpft. Was noch bemerkenswerter ist: Mit Ausnahme ALISON MOYETS sind sämtliche Künstler von damals noch immer erfolgreich im Geschäft. Eine Vielzahl von ihnen hat das Management längst selbst übernommen, sofern sie jemals fremdgesteuert waren. 1987, das war vor 25 Jahren.

Heute reden wir über den Niedergang der Musikkultur. Da, wo das Big Business verhandelt wird, ist für den Aufbau von langfristigen Karrieren keine Risikobereitschaft mehr vorhanden. Popularität speist sich aus einer mehrkanaligen Sichtbarkeit, die zumeist viel Geld kostet. Klar, dass auf der siebten Compilation von 2009 die Kindertraumtotengräber MILEY CYRUS, ASHLEY TISDALE und CARRIE UNDERWOOD ihre überzogenen Koloraturen einsingen durften. Wir kennen sie aus Funk und Fernsehen. Kein Plattenboss hätte WHITNEY HOUSTON neben diese Disneyfiguren platziert, es wäre zu viel der Scham gewesen, zu offensichtlich die gesangliche Überambition der Epigonen neben der maßvollen Dramaturgie des Originals. Nun macht Houstons früher Tod diese Gegenüberstellung unmöglich.

 SOUND

Die Eskalation und Überreizung der gesanglichen Stilmittel findet ebenso ihren Wiederhall im Technischen. JIMMY IOVINE, dieser große Produzent, überwachte die klangliche Konsistenz der ersten zwei Alben von ‘87 und ‘92. Als Assistent drehte er bei den letzten Aufnahmen von JOHN LENNON an den Reglern und produziert heute für JAY-Z. Kaum einer bewegt sich so leichtfüßig zwischen den Genres wie IOVINE. Wenig verwunderlich, dass A Very Special Christmas experimentelle Momente hat. Da sind die irritierenden Dissonanzen im Intro zu „Winter Wonderland“, bevor ANNIE LENNOX ihren seidenen Guttural hineingibt. Auch der Text des Weihnachtsliedes ist hier ironisch abgewandelt. Oder dort, die Background-Girls bei JOHN COUGAR MELLENCAMP verfallen am Ende von „I saw Mommy kissing Santa Claus“ in die Stimmlage pubertierender Weihnachtsengel. Zum Schießen. Die Kompilation von 2009 bietet dergleichen nicht.

 SONGS

„Christmas (Baby Please Come Home)“ ist auf beiden Platten vorhanden, damals in der Einspielung von U2 versus LEIGHTON MEESTER im Jahr 2009. „Leighton who?“, werdet ihr fragen. Eigentlich als Darstellerin aus der Serie Gossip Girl bekannt, reüssiert sie hier zum ersten Mal als Sängerin, ist neben CYRUS, TISDALE und VANESSA HUDGENS das vierte Fernsehdarling auf der aktuellen Kompilation. Wo BONO tapfere Inbrunst aufzubringen vermag und das Produzententeam den ollen Song zur dramatischen Rocknummer aufbläst, herrscht bei MEESTER vollkommene Langeweile samt Radiosound. Der subtile Shuffle von LARRY MULLEN wird in der Neufassung durch einen das Chinabecken grob durchdreschenden Retortendrummer ersetzt, der Leadsynth verkündet lauthals seine En Vogueness. BONO ist den Tränen nahe, seine Trauer kommt von Herzen – wenn er beim Einsingen der triefenden Lines an verhungernde Aidskinder dachte, ist uns das einerlei. Der Zweck heiligt alle Mittel. Umnebelt von Autotune versucht MEESTER erst gar nicht, aus ihrem Sprechstimmumfang emporzusteigen, raunt uns ihren Text etwas unbeholfen-lasziv ins Ohr.

Wie Sex wirklich geht, machte MADONNA 1987 mit „Santa Baby“ vor. Bestimmt hat sie den rotbemützten Pummel später vernascht und Millionen Kids um ihre Geschenke gebracht. Ach, und die Streicher ergehen sich in kontrapunktischer Opulenz, Bögen von warmer Kompression strömen durch die Kanister. All Killer, no filler? Nein, zwei drei Nummern sind furchtbar. Zum Beispiel der Folkbarde BOB SEGER mit „Little Drummer Boy“. Wir sehen es ihm nach, er hat das kurze Streichholz unter den Weihnachtsliedern gezogen. ALISON MOYET wagt mit „A Coventry Carol“ eine Barocknummer in Acapella. Das erfordert Mumm, alle Achtung. Aber auch in diesen Entgleisungen äußert sich noch die gesunde Risikobereitschaft.

„Es ist ja nicht so, dass die Menschen Musik nicht mehr lieben. Es ist nur die Art, wie sie angeboten wird, die nicht mehr viel Menschliches hat“, schreibt MELLENCAMP. Kulturpessimismus? Mitnichten, der alte Mainstream hat so viel populäre Hochkultur produziert, dass wir davon noch lange zehren können. Wer braucht schon ein weiteres Weihnachtsalbum, wenn es A Very Special Christmas in der ersten Ausgabe von 1987 gibt.

 

Video

Das Angebot an Konzerten in Berlin ist groß, da kann man schnell den Überblick verlieren. Zum Glück gibt es seit kurzem den CARTOUCHE-Ausgehplan, mit dem ihr euch darüber informieren könnt, welche Konzerte ihr auf  keinen Fall verpassen dürft. Ergänzend dazu veröffentlichen wir ab heute unter der Rubrik „Video“ Mitschnitte gelungener Konzerte in Berlin. Den Auftakt zu unseren neuen Serie gibt die französische Videokünstlerin NOURIYA T. BORGA alias VIKTOR & YOURI, die eine leidenschaftliche Konzertgängerin ist. Egal wo sie hingeht, ihre Videokamera hat sie immer mit dabei. BORGAS erster Clip für CARTOUCHE zeigt die Show des Berliner Duos MUERAN HUMANOS im HBC.

Links: VIKTOR & YOURI / HBC

Over The Shoulder

Auf den Hund kommen: heißt Männchen machen. Diese Sprache!

So darf man diese schmalen, farbenfrohen Bände vor allem als Angebote lesen, als immer wieder neue Aufforderung, sich der altmodischen Verlockung der Literatur anzuvertrauen, die verspricht, mit ihren Lesern in fremde Sphären zu reisen. 1

Da wird es bunt. Wie viele Bände schmeißen wir uns heute? Lassen wir das. Drogen sind, Bücher sind, Computerspiele sind asozial. Muss es aber nicht heißen, mit Büchern in fremde Sphären reisen? Ganz klassisch, Urlaubslektüre. Zentrale Frage: Was nehme ich mit?

Schreiben übers Lesen. Gelesenes abschreiben. Es ist einfach, sich mit fremden Federn zu schmücken (Guttenberg). Doch was ist ein Zitat?

Negative Autobiographie. 2

Ich erscheine, indem ich verschwinde. Ins positive gewendet:

Was mir fehlt, ist das richtig?, ist das falsch?, das ist der Mut zur KONSEQUENZ DES PATHOS. Lieber täte ich mich jedenfalls als den peinlichsten PathetSepp anschimpfen lassen, als daß ich mich zu einem NieNixFalschSchrei- ber hochloben lassen möcherte, der immer recht schön recht hat. Recht haben und schön auf der richtigen Seite stehen, dass schafft ja noch der letzte rechte Hand- schuh, aber mir ist das so wurscht, das glaubt ihr nicht, weil ich was viel was Schwereres mit der Arbeit herausarbeiten muß, nämlich die Wahrheit von allem. 3

Ja, Wahrheit.

Gibt‘s nicht,

sagen die Väter,

sagen die Väter,

die Wahrheit.

„Doch“, entgegne ich.

„Gibt es, und zwar meine“.

So vergingen die Tage, die Minuten. So las ich und schrieb und fuhr dann fort.

Auch der Mangel an Büchern war ihm oft sehr hinderlich. Er konnte, ja er wollte das nicht benutzen, was Andre über diese oder jene Materie bereits geschrieben hatten und sein Scharfsinn ermattete daher zuweilen bei schon von Andern gemachten Entdeckungen. 4

Warum lese ich eigentlich jetzt zum ersten mal und nur als Experiment formuliert so etwas:

Das ist ein super Album, um Analsex mit der Nachbarin zu haben, nachdem man zwei Tage wach war?

Es kann doch dem Leser, lese ich

weiter,

mehr über die Musik sagen (..) als das unaufhörliche Nerd-Gewichse männlicher Musikjournalisten Ende 30, die an ihren freien Wochenenden allen Ernstes unter ihrem Autorennamen auflegen 5.

Der Text muss die Party sein. 6

Muss er? Kann er?

Das Nachtleben ist sehr wohl auch ein Ort des Unglücks, der Reflexion auf Empfindungen der Alienation, des Ausgeschlossenseins vom Kollektiv und der hier eindeutig unangenehmen Erfahrung von individuellem Anderssein. 7

Produktive Umkehrung: Fangen wir beim Ich an. Es geht um Film (beispielsweise):

Ich glaube… 8 ,

Ich weiß nicht… 9.

Ich sehe was, was Du nicht siehst. Ich kenne mich selbst am besten, also will ich über mich reden. Ich muss ja nicht das Ausweis-Ich sein. Masken-Spiele spielen, zur Feier der Objektivität

Man verkleidet sich nicht nur, um sich zu verbergen. Ebenso verkleidet man sich, um gesehen zu werden. 10

Oder:

Ich setz die Maske auf und schock die Welt Ich geb‘n Fick ob‘s Euch gefällt. 11

Buch des Monats:

Hipster. Eine transatlantische Diskussion, Berlin 2012 12 .

Überall Gutfindekartelle 13. Mission: Kritik + Ablehnung. Oberthema der Rede zur Lage der Nation. Aber hilft das? Orientierungsschwierigkeiten 2012 wie 1986:

Der EINBRUCH DER IDYLLE in das stete Grauen erschien als testenswerte Arbeitshypothese. Dann aber hieß der Optimismus plötzlich Kohl und nicht Dante. Logisch wollte ich jetzt rufen: Sieg den grünen Struppis! Und ich hatte keine rechte Lust mehr, Peinsäcke zu verdreschen. Alles eine Riesenscheiße. Doch was jetzt? Gegen diesen ganzen dicken dummen dreisten Durchblick ist die nächste Strategie der Subversion vielleicht die WendenWende: ätzender Irrtum. 14

Wofür also einstehen? Modelle checken:

im jahre neunzehnhundertsechsundachtzig, am zweiundzwanzigsten september, dem tag des heiligen mauritius, betrat ich die deutsche demokratische republik. ich war, fast auf den monat genau, zwanzig jahre im westen gewesen. ich war sechsundzwanzig jahre alt. ich schleppte die drei schwersten koffer in den raum wo die grenze ist, die genossin sah auf mein papier und sagte: da studieren sie jetzt also bei uns, und ich war da.der zug nach leipzig kam aus binz. die leute im abteil lasen westbücher. ich bins! 15

Die Geschichte aber lief derweil weiter. Zentrale Frage: Was nehme ich mit?

DON‘T CRY WORK! 16

***

PHILIPP GOLL schreibt für taz und HATE.

Quellenverweise:

1 Lena Bopp, „Sirenengesänge aus der Nische“, in: FAZ, 10.11.2011, S. 30.

2 Stefan Ripplinger, „Return to Sender. Über Uwe Nettelbecks Zitatmontagen“, Kultur & Gespenster, Nr. 7 (Herbst 2008), S. 73-97, hier S. 84.

3 Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a.M.1986, S. 330.

4 Karl Friedrich Klischnig über Karl Philipp Moritz (1794). Zitiert nach: Uwe Nettelbeck, Karl Philipp Moritz, Ein Lesebuch, Nördlingen 1986, S. 27.

5 LauraEwert, „Ich komme nicht los von mir

6 Zitiert nach einer mündlichen Auskunft von Stefanie Peter über Claudius Seidl.

7 Rainald Goetz, Klage, Frankfurt a.M. 2008, S. 63.

8 Uwe Nettelbeck, „Die Legende vom Guten alten Westen“, in: Uwe Nettelbeck. Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft. Filmkritik 1963-1968, Hamburg 2011, S. 38.

9 Uwe Nettelbeck, „Jean-Luc Godards Film über den Tod, in: Uwe Nettelbeck. Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft. Filmkritik 1963-1968, Hamburg 2011, S.160.

10 Stefanie Peter, Wozu Masken? Ethnologische Anmerkungen zu einer Faszinationsgeschichte

11 Sido, Die Maske, Maske, Aggro Berlin 2004.

12 Blog des Interview-Magazins, 26.1.2012.

13 Tobias Rapp, „Auch das noch – die Avantgarde verlässt Berlin“, in: taz, 18.9.2008, S.17.

14 Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a.M.1986, S. 331.

15 Ronald M. Schernikau, Die Tage in L., 2. Aufl., Hamburg 2001, S. 13.

16 Cover von Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a.M. 1986.

No Fear Of Pop empfiehlt:

RANGERS – Pan Am Stories

Es ist schon wieder Dezember, jener Monat, in dem sich hunderte, ja tausende von Musikjournalisten hierzulande und irgendwo dieselbe Frage stellen, jene Frage, die zu stellen an sich irgendwie schon merkwürdig anmutet, die jedoch in der ganzen Flut von Jahresrückblicken nicht zu stellen schlicht niemand wagt: War 2011 ein gutes Jahr für Musik? Gut im Sinne von bahnbrechend, neudefinierend, relevant?

„Eher nicht“, würde SIMON REYNOLDS wohl entgegnen, einer der profiliertesten Journalisten der Branche, eher nicht, dies ist jedenfalls das Urteil, dass man REYNOLDS‘ jüngstem Werk entnehmen kann, Retromania: Pop Culture’s addiction to its own past, das im Frühsommer erschienen war und das seitdem Schreiberlinge diesseits und jenseits des Atlantiks beschäftigt, in sämtlichen Zeitungen und Zeitschriften, sogar in Deutschland, jenem Land, das an popmusikalischen Diskursen für gewöhnlich nicht teilnimmt und sich lieber dem neuesten Album von ICH + ICH widmet. Das war diesmal anders, jeder wollte dabei sein bei der großen Debatte um REYNOLDS’ Thesen, auch der Spiegel, auch die Spex, und so lässt sich immerhin schon einmal festhalten: Es kann kein ganz irrelevantes Jahr gewesen sein, was den Fortgang der Popmusik angeht, denn immerhin hatten wir endlich wieder was zum Reden.

Was REYNOLDS über fast 500 äußerst angenehm zu lesende, unfassbar informative Seiten ausbreitet ist im Grunde nicht mehr als dies, erstens: Es ist alles schon einmal dagewesen, und zweitens: Auch früher haben sich die Musiker schon auf früher bezogen, und drittens: Nur selten war es anders, neu, aufregend – besser – und zwar während der Ära des Post-Punk Ende der Siebziger und in der Hochzeit des Rave Anfang der Neunziger, wohl nicht ganz zufällig zwei Phasen, die REYNOLDS als junger Mann nicht nur miterlebt, sondern auch mit zwei viel beachteten und gefeierten Büchern gewürdigt hat. Seit ein paar Jahren nun ist die Popmusik endgültig in ihrer eigenen Geschichte gefangen, begünstigt durch das schier unerschöpfliche Archiv namens Internet, Revival reiht sich an Revival, und Innovation ist nur noch eine fade Erinnerung an ein glorreiches, verblasstes Gestern. Und sicher, wer möge da noch widersprechen? Ist die Popkultur das nicht tatsächlich: nur noch rückwärtsbezogen und selbstreferentiell?

Doch auch Rave und Post-Punk kamen nicht aus dem Nichts (letzterer schon gar nicht) – wie jede andere Kulturtechnik auch bezieht sich eben auch in der populären Musik alles Neue immer schon auf eine Matrix aus Referenzen an schon Gewesenes, und erst ein genaues Hinschauen erkennt die unscheinbare Grenze zwischen Retromanie – die man kritisieren mag oder nicht – und Retrophilie, die Reminiszenz als bloßen Ausgangspunkt nimmt für etwas Neues. Etwas solchermaßen Unerhörtes haben auch jene (zumeist amerikanischen) Künstler geschaffen, die der Musikjournalist DAVID KEENAN vor gut zwei Jahren unter den amorphen Begriff des Hypnagogic Pop zusammenfasste, Pop also, der sich im kulturellen Mainstream der Achtziger und Neunziger bedient und mit den Mitteln des Noise verwaschene Klangteppiche vor dem Hörer ausbreitet, um undeutlich erinnerungsgetränkte, traumgleiche Zustände zu evozieren.

Einer der aufregendsten Musiker dieser inzwischen aus dem Underground hervorgetretenen Strömung ist der Texaner JOE KNIGHT, der inzwischen an der Westküste der USA beheimatet ist und der sich dort mit seinem Projekt RANGERS und seinem Künstlerkollektiv BRUNCH GROUPE einen Namen gemacht hat als einer derjenigen, die das Spiel mit den popkulturellen Referenzen verinnerlicht haben und trotzdem – oder gerade deshalb – interessante, spannende und neuartige Popmusik machen. Schon für sein Debüt Suburban Tours (Olde English Spelling Bee, 2010), eine bedrückend-klaustrophobische Reise durch die Vororte sterbender amerikanischer Großstädte, war KNIGHT im letzten Jahr zu Recht euphorisch gefeiert worden.

Das kürzlich bei NOT NOT FUN erschienene zweite RANGERS-Album Pan Am Stories setzt an den verwaschenen Texturen von Suburban Tours an und nimmt auch den Eskapismus des Hypnagogic Pop wieder auf, transzendiert ihn aber zugleich durch Überwindung der losen Form des Genres zugunsten mitunter fast klassischer Popsongs, sogar den Gesang traut sich KNIGHT nun zu. Das Album verharrt auch keineswegs in den Achtzigern, sondern orientiert sich an Topoi sowohl des Soft- als auch des Prog-Rock ab den Siebzigern, an Genres also, die vor wenigen Jahren jeder halbwegs ernstzuehmende Künstler noch unter allen Umständen gemieden hätte. Mit einer Spielzeit von fast 73 Minuten kommt Pan Am Stories sogar vom Umfang her an die großen Konzeptwerke jener Dekade heran. Doch auch jenes „Früher“, das hier sichtbar wird, bleibt kein statischer Bezugspunkt, sondern wird ins „Jetzt“ übertragen, in Musik, die ihren Ort ohne Zweifel im Jahr 2011 hat. Dass dies alles weder sperrig noch unbequem wirkt, sondern im Gegenteil wie aus einem Guss erscheint und überhaupt Popmusik im besten Sinne ergibt, unterstreicht nur noch einmal das immense Talent, mit dem JOE KNIGHT gesegnet ist.

Noch einmal also: War 2011 ein gutes Jahr für Musik? Mit einem Album wie Pan Am Stories kann es zumindest kein ganz schlechtes gewesen sein. Und übrigens: Auch SIMON REYNOLDS ist ein großer Fan von RANGERS.

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HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter No Fear of Pop und schreibt auch sonst hier und da über Musik.