Editorial

Liebe LeserInnen,

es ist vollbracht. Nach intensiver Vorbereitung präsentieren wir Euch die erste Ausgabe des CARTOUCHE-Magazins. Das Heft ist eine Erweiterung unseres Blogs www.cartouche-blog.de, den wir vor einem Jahr gegründet haben, um Bands und DesignerInnen eine Plattform zu geben, die in den deutschsprachigen Medien zu kurz kamen oder ganz und gar vergessen wurden.

Ein wichtiger Bestandteil von CARTOUCHE sind Interviews, in denen wir mit unseren HeldInnen darüber sprechen, was sie bewegt. Ein immer wiederkehrendes Thema ist dabei die digitale Revolution. Wie gehen KünstlerInnen mit ihr um? Nutzen sie die Digitalisierung für ihre Zwecke oder fühlen sie sich von ihr bedroht? Chillwave Pionier CHAZ BUNDICK, das Noise-Duo CIVIL CIVIC und OWEN ASHWORTH standen uns auf unserem Blog zu diesen Fragen Rede und Antwort.

Doch warum ein Heft? Hat Papier nicht längst ausgedient? Ja und Nein. Es stimmt, dass sich Papierprodukte in Sachen Aktualität mit Internetblogs nicht messen können. Das müssen sie auch gar nicht, schließlich haben gedruckte Magazine ganz andere Stärken. Da wäre zum einen die Haptik. Gibt es etwas Schöneres, als in der neuesten Ausgabe seines Lieblings-Magazins zu blättern, dabei das Papier zu fühlen und den Geruch von Druckerschwärze in der Nase zu haben? Solche Erlebnisse, bei denen mehrere Sinne gleichzeitig reagieren, können Blogs nicht bieten. Zum anderen widmet man einem Magazin viel mehr Zeit. Angesichts der teilweise umfangreichen Länge unserer Texte war die Entscheidung ein Heft zu machen also pragmatischer Natur. Schließlich wollen wir, dass gelesen wird, worüber wir schreiben.

Denn unsere Texte sind uns wichtig. Unter anderem finden sich in dieser Ausgabe Interviews mit der Newcomer-Band WIDOWSPEAK, die in ihrer Musik den Geist alter Westernfilme beschwören und mit OWEN ASHWORTH, der nicht mehr unter dem Namen CASIOTONE FOR THE PAINFULLY ALONE unterwegs ist und Anfang Mai das erstes Album seines neuen Projekts ADVANCE BASE veröffentlicht. PAUL SOLBACH geht in seinem Text der Frage nach, warum Mainstream-Musik früher besser war. JONATHAN JARZYNA und JJ WEIHL haben für uns die Bands der Stunde aus Berlin auf einer CD versammelt und MARIE-THERESE HAUSTEIN portraitiert den Designer VLADIMIR KARALEEV.

Wir wünschen Euch viel Spaß beim Durchblättern, Lesen und Hören.

Die Redaktion von CARTOUCHE.

//Gespräche

Das Kottbusser Tor ist einer der Orte Berlins, die nie zu schlafen scheinen. Auch an diesem verregneten Donnerstagabend sind wieder viele Nachtschwärmer auf den Gehwegen rund um den Platz unterwegs, auf der Suche nach der nächsten Party. Durch die großen Fenster der Monarchbar kann man das Treiben am Kottbusser Tor genau beobachten. Hier wird in einer Stunde die US-amerikanische Band WIDOWSPEAK auf der Bühne stehen, die gerade ihre erste Tour durch Europa absolviert. Für ihr Debütalbum, auf dem sie den Geist alter Westernfilme zu leben erwecken, wurden Sängerin MOLLY HAMILTON, Gitarrist ROB THOMAS und Schlagzeuger MICHAEL STASIAK, in den USA und Europa viel gelobt. Kurz nachdem das Trio seinen Soundcheck beendet hat, macht es sich gemeinsam mit uns auf die Suche nach einem ruhigen Ort für unser Interview. Wie sich herausstellt, ist das gar nicht so einfach. Zehn Minuten später lassen wir uns in einem nahe gelegenen Treppenhaus nieder. Doch auch hier kommen wir nicht wirklich zur Ruhe, weil sich immer wieder Leute an uns vorbeischieben. Den drei FreundInnen macht das zum Glück wenig aus. Gut gelaunt und geduldig beantworten sie all unsere Fragen.

Seit zwei Wochen seid ihr nun schon in Europa unterwegs, wie lief die Tour bis jetzt?

MOLLY HAMILTON: Bisher lief alles gut. Ich wünschte, die Tour würde niemals enden.

ROB THOMAS: Wir können unser Glück gar nicht fassen. In den letzten Wochen haben wir an Orten gespielt, die keiner von uns je zuvor gesehen hat. Unsere Tour startete in London, danach folgten weitere Auftritte in England, bevor es nach Frankreich, Italien, in die Niederlande und die Schweiz ging. Wir haben so viele tolle Menschen kennengelernt und an aufregenden Orten gespielt.

Was für Orte waren das?

MOLLY: In Bologna traten wir in dem Keller eines Ladens auf, in dem man Rasierwasser kaufen konnte. Der Keller war klein, die Gäste brachten Essen und Getränke mit – eine sehr gemütliche Atmosphäre also.

ROB: Der Gig gehört auch zu meinen Favoriten. Vor Bologna waren wir in den Niederlanden, wo wir in riesigen Komplexen spielten, in denen Proberäume, Restaurants und Wohnungen untergebracht waren. Eine nette Abwechslung zu unseren „normalen“ Shows in Brooklyn.

Habt ihr ein Tour-Ritual? THURSTON MOORE, der Sänger von SONIC YOUTH, hat ja auf Tour am liebsten Plattenläden unsicher gemacht.

MICHAEL STASIAK: Hätte ich genug Geld, würde ich dasselbe tun. Ich sammle leidenschaftlich gerne Platten! In Brooklyn arbeite ich in einem Plattenladen.

ROB: MOLLY und ich interessieren uns sehr für Architektur. Wann immer es die Zeit erlaubt, drehen wir eine Runde durch die Stadt und besichtigen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten.

MOLLY: Wir frühstücken auch oft zusammen. Das machen wir sonst nie.

Was gibt es bei euch zum Frühstück?

ROB: Auf jeden fall heißer Kaffee  – wir lieben Kaffee!

Mit einem Schuss Whiskey? Hört man eure Musik, würde das passen. Aber im Ernst: Warum macht ihr Rockmusik?

ROB: Du nennst das, was wir machen „Rockmusik“? Wie lustig! In New York würden die Leute sagen, dass wir psychedelischen Folk oder Dream Pop spielen.

MOLLY: Wir sind zu leise, um eine echte Rockband zu sein, dafür fehlt uns die nötige Power. Wir haben weder Bass noch Crash-Becken!

Wie habt ihr zu Eurem Sound gefunden?

MICHAEL: Über Konzerte. Das beste, was du als junger Musiker machen kannst, ist deinen Freunden beim Spielen zu zuschauen und dir zu überlegen, wie du das Gehörte auszubauen und in deine eigene Musik einfließen lassen kannst.

ROB: Hören ist definitiv ein gutes Stichwort: Als wir das Album aufnahmen, habe ich versucht Elemente meiner Lieblingssongs in unsere Stücke einzubauen.

Welche Künstler haben eure Musik beeinflusst?

MICHAEL: Meine großen Vorbilder sind AL JACKSON von BOOKER T. & THE M.G.’S, BOBBY GILLESPIE von THE JESUS AND MARY CHAIN und MOE TUCKER von THE VELVET UNDERGROUND.

MOLLY: Wir hören generell viel alte Musik. Da ist alles dabei, von den 20ern bis zu den 90ern. Ich bin ein großer Fan der CARTER FAMILY, von HANK WILLIAMS, alten Bluesmusiker wie BLIND WILLIE JOHNSON oder MISSISSIPPI JOHN HURT, aber auch von Bands wie R.E.M. und THE CRANBERRIES.

Wo habt ihr diese alten Nummern her, aus dem Plattenschrank eurer Eltern?

MOLLY: Schön wär’s! Meine Eltern liebten Grunge, entsprechend musste ich mir alles, was älter war, selbst besorgen. JONI MITCHELL habe ich zum Beispiel rein zufällig in einem Plattenladen entdeckt. Ich war zwölf Jahre alt, wusste nicht was ich kaufen sollte und entschied mich schließlich für ein Album, das nur 99 Cents kostete.

ROB: Bei mir war es ganz ähnlich. Da meine Eltern keine Musikfans sind, musste ich mir sogar Klassiker wie die ROLLING STONES woanders besorgen. Um alte Musik zu erschließen, habe ich eine einfache Strategie: Ich finde heraus, welche Bands meine Lieblingsband mochte und höre sie mir an. Dasselbe mache ich dann mit diesen Bands. Eine Zeitreise durch die Musikgeschichte sozusagen!

MICHAEL: Ich habe immer versucht, das genaue Gegenteil von dem zu hören, was mein Vater in seinem Plattenschrank stehen hatte.

MOLLY: Was steht denn da?

MICHAEL: Rumours

MOLLY: … wirklich? Ich liebe FLEETWOOD MAC! Es ist schade, dass meine Eltern das nicht gehört haben – so viel Musik, die ich erst viel zu später entdeckt habe.

Inwiefern hat das Internet die Suche nach älterer Musik erleichtert? Archive wie Wikipedia bieten ja eine gute Möglichkeit, sich schnell und bequem durch die gesamte Musikgeschichte zu klicken.

MOLLY: Das stimmt! Ganz besonders alte Musik, die du sonst nur in alten Bibliotheken findest, kannst du dank des Internets so einfach bekommen. Egal, ob du nun nach Musik aus den 30ern suchst oder nach einer limitierten Auflage einer Punkband aus den 70ern.

MICHAEL: Das ist aber nicht nur mit alter Musik so. Auch zeitgenössische Musik ist viel einfacher zugänglich. Schau dir nur unsere Band an. Uns gibt es gerade erst ein Jahr, trotzdem haben wir Fans in vielen verschiedenen Ländern. Ohne Internet wäre das nicht möglich gewesen.

Das stimmt. Aber war es nur das Internet, das für euren rasanten Karrierestart gesorgt hat?

MOLLY: Das Internet war sicherlich ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Faktor. Unser Label hat uns auch sehr geholfen. Wie die uns so schnell gefunden haben, ist mir noch immer ein Rätsel. Vielleicht haben sie unsere Demoaufnahmen auf irgendeinem Musikblog entdeckt. Jedenfalls schickten sie uns kurz nach unserem ersten Konzert eine Mail, in der sie fragten, ob wir noch andere Aufnahmen hätten?

Und wie habt ihr euren Weg in die Musikszene Brooklyns gefunden?

MOLLY: Das geht ziemlich schnell in Brooklyn. Du musst einfach nur ein paar Shows spielen oder auf Konzerte gehen. Eine unserer ersten Shows war im Shea Stadium, wo wir für DUTCH TREAT und TOTAL SLACKER den Abend eröffneten, die zwei sehr bekannte Bands aus Brooklyn sind.

MICHAEL: Mit jeder unserer Lieblingsbands aus Brooklyn haben wir bis jetzt schon zusammengespielt. Im Herbst erst waren wir mit den VIVIAN GIRLS auf  Tour, von denen ich ein großer Fan bin!

Gibt es jemanden aus der Szene, mit dem ihr gerne mal zuammenarbeiten würdet?

MICHAEL: Alle Leute, mit denen wir gerne Musik machen würden, sind tot. Ich würde mein Leben dafür geben, einmal mit BUDDY HOLLY spielen zu können. BUDDY war wie wir ein großer Freund des Minimalismus. In vielen seiner Songs hielt ein Koffer als Schlagzeug her.

ROB: Es wäre toll mit jemandem zusammen zu arbeiten, der sich außerhalb unseres Kosmos befindet, einem Folk- oder Bluesmusiker.

MOLLY: Ja, irgendein Künstler auf MISSISSIPPI-RECORDS. Sonst fällt mir auch keiner ein… Ich bin mir aber sicher, dass uns im Laufe unserer Karriere noch der ein oder andere über den Weg läuft, mit dem man gern zusammen Musik machen möchte.

Eure Musik würde super in Westernfilme passen. Aber auch im Soundtrack zu Pulp Fiction wäre sie gut aufgehoben. Mögt ihr den Film?

MOLLY: Wir lieben Pulp Fiction!

MICHAEL: Wir haben uns den Soundtrack gerade erst gekauft. Auf der Tour mit den VIVIAN GIRLS lief er die ganze Zeit im Van.

MOLLY: Es war verrückt, den Soundtrack nach der Aufnahme unseres Albums zu hören. Er ist eine Quintessenz dessen, was wir mögen und machen.

ROB: Ich mag die Idee des Soundtracks, also dass die Musik die Bilder ergänzt. Ähnliches versuchen wir bei Widowspeak: Artwork, Musik und Auftreten sollen eine Einheit bilden.

A propos: Wer hat die Cover eurer EPs und eures Albums gestaltet? Ich finde, dass sie sehr gut zur Musik passen.

MOLLY: Vielen Dank! Die Bilder stammen von JOHN STORTZ, einem Freund von ROB. Sie haben sich in New York kennengelernt.

ROB: Ich mochte seine Arbeit und dachte mir, dass sein Stil perfekt zu unserer Musik passt. Also habe ich ihn überredet, für uns zu arbeiten.

MOLLY: Wir hatten JOHN, wussten aber nicht, was er zeichnen sollte. Da stieß ich in einem Buchladen unverhofft auf eine alte Paperback-Ausgabe von HERMANN HESSES Steppenwolf und verliebte mich sofort in das Artwork, das mit Wasserfarben gestaltet war. Nach so etwas hatten wir die ganze Zeit gesucht.

ROB: Wir sendeten ihm das HESSE-Buch und sagten ihm, dass wir die Atmosphäre des Bildes mochten.

Was für eine Atmosphäre war das?

MOLLYEine gespensterhafte und nostalgische Atmosphäre – genau wie in unserer Musik.

ROB: Unsere Musik ist neu und vertraut zugleich, ohne dabei alt zu wirken. Sie ist wie etwas, das dir bekannt vorkommt, das du aber nicht sofort wiedererkennst.

Links: bandcamp / captured tracks

(Foto: DALE W. EISINGER)



//Empfehlung

Im Zuge der digitalen Revolution haben sich die Standards für Musikalben deutlich verändert. Galt es lange Zeit als Tugend, ein Album erst dann zu veröffentlichen, wenn es wirklich fertig war, erscheinen heute immer mehr Alben, deren Qualität sich kaum von der eines Demotapes unterscheidet. Abgesehen davon, dass Ideen nicht ausformuliert werden, ist der Sound schlecht abgemischt, die Instrumente klingen schief.

Als Lo-Fi oder Low-Fidelity wird eine solche Ästhetik bezeichnet. Seit Anbruch des digitalen Zeitalters ist Lo-Fi-Musik zu einem Massenphänomen geworden. Viele KünstlerInnen versuchen erst gar nicht, das nötige Kleingeld für ein großes Aufnahmestudio zusammenzukratzen, sondern nehmen ihre Songs gleich in den eigenen vier Wänden am Computer oder mit einem Kassettenrekorder auf. Digitaler Kommunikationswege sei dank, können sie ihre selbstgemachten Aufnahmen anschließend problemlos verbreiten.

Die U.S.-amerikanische Künstlerin MEGHAN REMY aka U.S. GIRLS kann dieser stetig wachsenden Do-it-Yourself-Fraktion zugerechnet werden. Ihre ersten beiden Alben waren noise-verliebte Schlafzimmer-Produktionen, die klangen, als seien sie lediglich mithilfe eines Diktiergeräts eingespielt worden. Im November vergangenen Jahres legte die Musikerin nach. Auf dem niederländischen Label K-RAA-K veröffentlichte sie ihren dritten selbstproduzierten Longplayer U.S. Girls on KRAAK.

Dort bleibt sich die Musikerin nicht nur treu was die Produktion betrifft, auch in Puncto Songwriting steht U.S. Girls on KRAAK in der Tradition seiner Vorgänger. Wie gehabt verzichtet REMY in den meisten ihrer neuen Stücke auf klassische Lied-Elemente wie Intro, Strophe und Refrain. Stattdessen finden sich dort skizzenhafte Klangkollagen, die sich, wenn sie nicht von einer schnarrenden Rhythmus-Pattern zusammengehalten werden, in dissonantem Geklimper und ekstatischem Noise verlieren.

Ein ähnliches Non-Songwriting zelebrierte die Künstlerin ANNIE SACHS aka TICKLEY FEATHER auf ihrem 2009 bei PAW TRACKS erschienenen Album Hors D’Oeuvres. Genau wie REMY widersetzte sich SACHS dem Diktum Verse-Chorus-Verse zugunsten freierer Formen: Ein Beat, zwei Akkorde und eine Melodie mussten reichen, manchmal sogar ganze fünf Minuten lang. Das kann nerven. SACHS hingegen schaffte es zu begeistern und in einigen Songs sogar zum Punkt zu kommen. Man erinnere sich nur an „Trashy Boys“ mit seiner hymnenhaften Gesangsmelodie.

Auch auf U.S. GIRLS on KRAAK gibt es zwei Stücke, die äußerst straight und weniger kakophon sind als der Rest. Und diese überzeugen auf Anhieb: Da wäre zum einen das Lied „Island Song“, das eine eingängige Melodie besitzt, die zunächst von einem Klavier gespielt und wenig später von REMYS kraftvoller Stimme aufgegriffen und variiert wird. Ungewöhnlich harmonieverliebt klingt auch die wabernde Klangfläche, deren Noise-Level auf ein angenehmes Maß reduziert ist. Der straighte Beat lädt zum Tanzen ein. Ähnlich sieht es bei dem Cover des 90er-R’n’B-Hits „The Boy Is Mine“ aus, dem die Musikerin Mittels Entschleunigung eine imposante Deepness und Epik verpasst hat.

Die beiden Lieder deuten an, wo die Reise bei U.S. GIRLS hingehen könnte. So kann REMY, wenn sie es will, Popsongs schreiben, die von gleicher umwerfender Qualität sind wie die Lieder einer CLAIRE BOUCHER alias GRIMES. Das hat offenbar auch das Label FATCAT erkannt, das die Musikerin Ende 2011 unter Vertrag nahm. Man darf gespannt sein, ob dort unter professioneller Anleitung weitere Stücke à la „Island Song“ entstehen. Zu wünschen wäre es auf jeden Fall.

Links: Bandcamp / MyspaceKraak

(Foto: FAT CAT)



Playlist

Die Modeschauen des Berliner Modedesigners VLADIMIR KARALEEV sind berühmt für ihre Scores. Wie keinem anderem gelingt es ihm, den Effekt seiner Entwürfe durch dein Einsatz passender Musik zu verstärken. Für seine letzten Shows stellte VLADIMIR einen sehr langsamen und bassigen Soundtrack zusammen, der hervorragend mit den fließenden Formen seiner Kleider harmonierte. Vertreten waren dort zeitgenössische Künstler_innen wie 18+, FEVER RAY und ANIKA.  Angesichts seines einmaligen Gespürs für Musik lag es nahe, den Modeschöpfer für den zweiten Teil unserer Playlist-Reihe nach seinen derzeitigen Lieblingssongs zu fragen.


18+: »Drawl (Demo)«

Vladimir Karaleev: „Drawl“ von 18+ ist ein großartiger Song, den ich vor allem wegen seiner Bassigkeit und Langsamkeit schätze. Der Stil des Stücks erinnert mich sehr an SALEM, eine Band aus New York, die in ihrer Musik Hip Hop und Techno miteinander verknüpft. Das Musikvideo zu „Drawl“ mag ich ebenfalls. Man sieht eine animierte Frau in knappem Bikini, die ihre Hüften übertrieben lasziv zum Takt der Musik bewegt. Im Hintergrund geht die Sonne unter, von oben rieseln rosa Herzchen ins Bild. Die schmutzigen Zeilen der Sängerin und der lahmende Beat fügen sich perfekt in das absurde Szenario. Einfach toll! „Drawl“ hat mir so gut gefallen, dass ich ihn für meine diesjährige Show auf der Berlin Fashion Week verwendete. Empfohlen wurde mir das Lied von einem guten Freund, dem Berliner DJ PAUL STEIER. PAUL schlägt mir immer wieder Songs für meine Präsentationen vor. Sein Tipp für meine nächste Show ist das englische Duo HYPE WILLIAMS.

________________________________________________________________

 Wilson Philipps: »Hold on«

Die Band WILSON PHILIPPS feierte kürzlich ein kleines Comeback. In der US-amerikanischen Kitschkomödie Brautalarm des Regisseurs PAUL FEIG spielte die Gruppe ihren Hit „Hold on“. Seitdem ich den Film im Kino gesehen habe, geht mir der Song nicht mehr aus dem Kopf. WILSON PHILIPPS ist eine Band aus den 90ern, die aus den zwei Schwestern CARNIE und WENDY WILSON sowie CHYNNA PHILLIPS besteht und in Europa relativ unbekannt ist. An dem Song gefällt mir zum einen das Zusammenspiel der drei Stimmen, das ihm eine dramatische Note verleiht. Zum anderen das Thema des Textes. Wie die meisten Songs ihres Debütalbums setzt sich „Hold on“ mit der Zeit nach einer Trennung auseinander. Ich mag die Haltung, die immer wieder zum Ausdruck kommt: Die Band erinnert Frauen daran, wie wichtig es ist, in solch schweren Zeiten Stärke zu zeigen und den Partner loszulassen. Am liebsten höre ich das Lied, wenn ich morgens ins Studio fahre.

http://www.dailymotion.com/video/xcu94x_wilson-phillips-hold-on_music

________________________________________________________________

Mariah Carey: »MTV Unplugged«

Die fiesen Gesangsharmonien MARIAH CAREYS sind die beste Medizin gegen schlechte Laune. Sie zu hören ist ungefähr so, wie sich mit dem Finger in einer offenen Wunde herumzustochern. Danach geht es mir wieder besser. Ich höre Alben selten komplett durch, da es in der Regel mindestens einen Song gibt, der mich nervt. Ganz anders geht es mir mit MARIAH CAREYS Unplugged-Album, das ich in der letzten Zeit rauf und runter gehört habe. Ich mag die Atmosphäre der MTV-Unplugged-Reihe. Die Kommentare zwischen den Songs geben mir das Gefühl, live im Konzertsaal dabei zu sein. Über die Musik hinaus faszniert mich an MARIAH CAREY ihr Einfluss auf die zeitgenössische Popkultur. Ihre Art zu singen findet sich in sämtlichen TV-Castingshows wieder: Alle versuchen zu sein wie sie.

(Foto: DIRK MERTEN)

//Gespräche

Geht es um Lo-Fi-Musik, fällt früher oder später der Name OWEN ASHWORTH. Auf allen Alben, die der 34-jährige Musiker aus Chicago unter dem Namen CASIOTONE FOR THE PAINFULLY veröffentlicht hat, zelebrierte er die Ästhetik simpelster Aufnahmetechniken. Mit CARTOUCHE sprach ASHWORTH über die Vorzüge von Lo-Fi-Musik, seine musikalischen Vorbilder und sein neues Projekt ADVANCE BASE.

OWEN, immer mehr Künstler meiden professionelle Tonstudios. Sie ziehen es vor, ihre Musik in den eigenen vier Wänden mit einem Kassettenrekorder aufzunehmen. Low Fidelity scheint der neue Pop zu sein. Wie würdest du diese Entwicklung einschätzen?

OWEN ASHWORTH: Lo-Fi soll derart populär sein? Das glaube ich kaum. Hi-Fi ist immer noch State of the Art. Ich würde auch sagen, dass Lo-Fi-Musik das genaue Gegenteil von Pop ist!

Anders gefragt: Seit Beginn des digitalen Zeitalters scheint die Zahl selbst produzierter Alben gestiegen zu sein. Könnte dies Ausdruck einer Ablehnung der Musikindustrie sein?

Das ist schwer einzuschätzen. Subkulturen bedienen sich oft einer revolutionären Rhetorik. In den meisten Fällen geht es aber doch nur darum, cooler zu sein als der Rest. Sieh mich an: Mir geht es in erster Linie darum, mit meiner Arbeit Geld zu verdienen. Dennoch finde ich es gut, wenn Leute es schaffen, etwas selbst auf die Beine zu stellen. Ich hoffe, dass sich immer mehr Künstler dazu inspiriert fühlen, ihre Musik selbst aufzunehmen, zu veröffentlichen und zu verbreiten. Produzenten, Labels und Journalisten sind nicht ansatzweise so wichtig, wie sie es immer von sich behaupten.

Was magst du an Lo-Fi-Musik?

Ich liebe den Sound einfacher Aufnahmetechniken. Ganz besonders mag ich es Fehler zu hören oder Gegenstände, die sich zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade zufällig in der Nähe des Mikrofons befanden. Quietschende Stühle zum Beispiel. An zeitgenössischer Hi-Fi-Musik stört mich ihr Klang. Es gibt da sicherlich Ausnahmen, aber ein Großteil der im Studio produzierten Popmusik klingt schlicht zu synthetisch.

All deine Alben teilen eine ähnliche Ästhetik. Warum hast du dich entschieden, Lo-Fi aufzunehmen?

Ich hatte ganz einfach nicht genug Geld, um ein Studio zu mieten und einen Ton-Ingenieur zu bezahlen. Deshalb musste ich versuchen aus dem Equipment, das mir zur Verfügung stand, das beste rauszuholen. Ich hätte natürlich Geld sparen können und jemanden anheuern können, der meine Musik so klingen lässt wie im Radio. Das Resultat hätte ich aber niemals hören wollen. Also habe ich das Geld lieber gespart und mein eigenes Ding gemacht. Das entsprach mehr meiner Natur. Ich bin ein Sturkopf und mochte es immer schon, alles selbst zu machen.

Bist du ein Fan DANIEL JOHNSTONS?

Das bin ich in der Tat. Die Songs, in denen er Klavier spielt, mag ich besonders. Bis mir Bekannte erzählten, dass sie meine Musik an DANIEL JOHNSTON erinnert, kannte ich ihn allerdings nicht. CASS, ein alter Schulfreund, besaß eine Kopie seines Albums Hi, How Are You? auf Kassette. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er mir das Album in seinem Pick-Up vorspielte. Was ich da hörte, hat mich umgehauen. Zu dem Zeitpunkt nahm ich gerade das zweite Album meines Projekts CASIOTONE FOR THE PAINFULLY ALONE (CFTPA) auf.

Hat dich seine Musik inspiriert?

Die Bedeutung DANIEL JOHNSTONS für meine Arbeit ist sicherlich nicht zu unterschätzen. Die Person, die mich aber noch mehr inspiriert hat, ist LOU BARLOW, der Bassist von DINOSAUR JR. Ich hatte gerade erst angefangen Musik zu machen, als ich mir das DINOSAUR-JR.-Album You’re Living All Over kaufte. Die Tape-Kollage mit der das Album endet, ließ mich nicht mehr los. Das waren brandneue Sounds. Ich war begeistert davon, wie BARLOW klaustrophobisches Songwriting mit Noise kombinierte. Ich fertigte meine eigenen Kollagen an, die zwar fürchterlich klangen, sich im Laufe der Zeit aber zu ersten Songwriting-Versuchen entwickelten. Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich herausfand, was ich wirklich wollte. Eins ist jedoch klar: CFTPA hätte es ohne LOU BARLOW nicht gegeben.

Dein neues Projekt ADVANCE BASE hat ebenfalls einen großartigen Lo-Fi-Sound. Wie hast du die neuen Songs aufgenommen?

Das ist nett, vielen dank! Bis jetzt habe ich das gesamte ADVANCE BASE Material allein eingespielt. Dabei nutzte ich eine Kombination aus 4-Spur-Kassettenrekorder und Computer.

Hast du bei ADVANCE BASE eine andere Herangehensweise als bei CFTPA?

In gewisser Weise führe ich bei ADVANCE BASE meine bisherige Arbeit fort. Ich probiere aber auch neue Sachen aus: Die Themen meiner Texte haben sich geändert und der Sound ist behutsamer und weniger aggressiv als bei CFTPA. Darüber hinaus geht es nicht mehr primär darum, Musik für Konzerte zu schreiben.

Worum geht es dann?

Um das Aufnehmen von Musik. Das ist der Aspekt, der mir an meiner Arbeit am meisten gefällt. Während meiner Zeit mit CFTPA wurde ich irgendwann richtig besessen von der Effizienz meiner Arrangements und meiner Shows. Ich bin viel getourt, zumeist ganz allein, weshalb alles darauf ausgelegt war, kompakt und tragbar zu sein. Das hatte mit Musik nicht mehr viel zu tun. Anstatt mir also den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich meine Musik live aufführen kann und alles in einem Koffer verstauen soll, bin ich im Moment daran interessiert, Musik aufzunehmen, die ich wirklich mag.

War das auch der Grund, weshalb du mit CFTPA aufgehört hast?

Nicht direkt. Ich wollte ganz einfach noch einmal ganz von vorne anfangen. Ich hatte CFTPA gegründet, als ich 20 Jahre alt war und jetzt, mit 34, kann ich mit den Problemen von damals nicht mehr viel anfangen. Was romantische Beziehungen und Einsamkeit betrifft, bin ich längst nicht mehr so nachdenklich wie früher. Ich bin wirklich stolz darauf, so viele Leute mit meiner Musik erreicht zu haben, aber ich habe momentan nicht mehr dieselbe emotionale Bindung zu den alten Songs. Ich hoffe, dass ich eines Tages das CFTPA-Material dafür wertschätzen kann, was es ist. Doch jetzt will ich erst einmal neue Lieder singen.

Ist ADVANCE BASE eine Ein-Mann-Show oder spielst du mit anderen Leuten zusammen?

Es gibt verschiedene Versionen von ADVANCE BASE. Hier in Chicago ist ADVANCE BASE eine vierköpfige Band, die aus JODY WEINMANN, NICK AMMERMAN und ED CROUSE besteht. Das sind alles Freunde von mir, die gleichzeitig großartige Musiker sind. Ich liebe es mit ihnen Musik zu machen, aber sie haben entweder Jobs, Familien oder andere Verpflichtungen, die sie davon abhalten durchgehend verfügbar zu sein. Das war auch der Grund, weshalb mich mein Bruder GORDON auf Tour begleitet. Ich hoffe, dass wir in Zukunft öfter gemeinsam unterwegs sein können. Da GORDON aber auf der anderen Seite der Staaten lebt, ist es schwer, eine gewisse Regelmäßigkeit in unsere Zusammenarbeit zu bringen. Deshalb bin ich dankbar für jeden Moment, den ich mit GORDON verbringen kann.

Wann und wo wird das erste Album von ADVANCE BASE erscheinen?

Das weiß ich noch nicht. Um ehrlich zu sein, finde ich es gerade sehr angenehm, keine Deadlines zu haben. Da ich bis jetzt noch keine Angebote gekriegt habe, werde ich das Album voraussichtlich auf eigene Faust veröffentlichen. GORDON und ich haben vor kurzem das Label ORINDAL gegründet, auf dem wir bereits einige EPs von ADVANCE BASE und GORDONS Projekt CONCERN herausgebracht haben. Für den Moment ist das mein Label.

(Foto: TOM COPS)

Links:  advance base / concern / orindal / daniel johnston / lou barlow

//Empfehlung

Als rockaffiner Teenager kommt man an NIRVANA nur schwer vorbei. Ich selbst war 15 Jahre alt, als ich die Band für mich entdeckte. Die rohe Gewalt ihres Debütalbums Bleach gab mir genau das, was ich damals brauchte. Einen Winter lang interessierte mich nichts anderes. Ich las COBAINS Tagebücher, zwei Biographien und sah mir auf MTV sämtliche Dokumentationen über die Band an. Dabei stieß ich auch auf den Film „1991 – The Year Punk Broke“ von DAVE MARKEY, der während der legendären Tour von NIRVANA, SONIC YOUTH, DINOSAUR JR. und den RAMONES durch Europa im August 1991 aufgenommen wurde. An den Film heranzukommen gestaltete sich damals äußerst schwierig, da die VHS nicht mehr verkauft wurde. Das hat sich jetzt zum Glück geändert: 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung erscheint MARKEYS Dokumentation endlich auf DVD.

MARKEYS Film lohnt sich allein schon wegen der Szenen mit KURT COBAIN. Wir schauen dem Sänger dabei zu, wie er sich, sichtlich vergnügt, von SONIC-YOUTH-Bassistin KIM GORDON schminken lässt. Oder sich lachend auf dem Boden eines Backstage-Raums wälzt. Der KURT COBAIN aus MARKEYS Film ist das krasse Gegenteil des verdrossenen und drogenabhängigen Rockstars, der er einmal werden sollte. Diesen Eindruck bestätigte MARKEY gegenüber dem Jounalisten DAVID BROWNE: “Diese Tour war für alle, die dabei waren, der letzte Moment der Unschuld”, sagt er in BROWNES Buch Goodbye 20th Century, das 2009 erschien.

Das restliche Material ist nicht minder interessant, zeigt es die einzelnen Protagonisten von einer Seite, die ich so noch gar nicht kannte. Besonders überrascht haben mich die Entertainer-Qualitäten THURSTON MOORES, den ich mir wesentlich ernster vorgestellt hatte. In MARKEYS Film dreht der SONIC-YOUTH-Sänger so richtig auf: Großartig die Szene, in der er, einem Prediger gleich, aus seinem Hotelfenster lehnt und Passanten (eine Mutter mit Kind) auffordert zu zeigen, dass sie Menschen sind und keine Enten. Oder die, in der er ein paar deutsche Punk-Kids fragt, was die Jugend machen soll, wenn die Industrie ihre Kultur monopolisiert. Als diese nur schüchtern die Augenbrauen hochziehen, dreht sich MOORE in die Kamera und sagt: „Ich denke, wir sollten den betrügerischen Kapitalismus zerstören, der die Jugendkultur zerstört durch Massenvermarktung und kommerzielle Paranoia-Manipulation. Als erstes müssen wir die Plattenfirmen zerstören“.

Eindrücke wie diese sind es, die den Film zu einem bedeutenden Zeugnis seiner Zeit machen. Wie keinem anderen ist es MARKEY gelungen, die letzten Augenblicke kurz vor dem weltweiten Erfolg von NIRVANAS zweitem Album Nevermind einzufangen.

Links: dave markeys tour-tagebuch


//Portrait


Es ist noch früh am Morgen, als VLADIMIR KARALEEV mit einem Becher Kaffee in der Hand aus einem schwarzen Taxi steigt. Der rote Teppich, der zu dem großen weißen Zelt führt, wird gerade erst ausgerollt. Am Eingang haben sich die muskelbepackten Securities bereits in Stellung gebracht, deren tiefschwarze Anzüge das Licht der aufgehenden Sonne reflektieren. Auch die ersten Models sind schon eingetroffen und suchen verschlafen aussehend die Garderobe. Gefolgt von seinen beiden Assistentinnen betritt auch KARALEEV das Innere des Zeltes. Drei Stunden bleiben ihm noch, um seine Show vorzubereiten. Alles muss sitzen, schließlich ist seine Präsentation eine der gefragtesten der BERLIN FASHION WEEK 2011.

Noch vor zehn Jahren hätte er sich diesen Erfolg nicht träumen lassen. Damals, als er nach Berlin kam, um an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Mode zu studieren, wollte VLADIMIR KARALEEV lediglich der gesellschaftlichen Enge seines Geburtslandes Bulgarien entfliehen und seine Träume verwirklichen. 1981 in Sofia geboren, kam er schon früh mit der Mode in Berührung. Oft  schaute er seiner Tante beim Nähen zu. Er war fasziniert davon, was sie aus ihren vielen unterschiedlichen Stoffen herstellte. Wenig später, im Alter von 14 Jahren, entwarf er bereits seine eigenen Outfits, zunächst nur für seine  Freunde, die sie auf Rave-Partys trugen. Regenmantelstoffe, Riesenhüte und Shirts mit Alien-Prints darauf, das waren seine ersten Kreationen. Sein liebstes Ensemble waren BJÖRK, GOLDIE und GAULTIER.

Die Musik beginnt, die Klänge des Stücks „I’m in Love with a German Film Star“ der britischen  Dream-Pop-Combo THE PASSIONS wabern durch den schwarzen Raum, den das Scheinwerferlicht in gelbes Licht taucht. Eines nach dem anderen betreten die Models die Bühne, die sich aus acht würfelförmigen Podesten zusammensetzt. Statt steifen, skulptural wirkenden Stücken tragen sie Kleider, die zu zerfallen scheinen und dabei von einer eigenen, eindrücklichen Schönheit sind. Das Geheimnis der Konstruktion der Kleider wird dem Betrachter nur durch KARALEEVS raffiniertes Layering offenbart, durch das an einzelnen Stellen das Futter durchblitzt. Charakteristischen Elementen wie Reißverschlüsse, Bündchen und Taschen beraubt der Designer ihrer eigentlichen Funktion, wodurch ihr ästhetisches Potential in den Vordergrund tritt. Trotz der statischen Präsentation scheinen die leicht fließenden Stoffe ständig in Bewegung zu sein und sich im Licht zu wandeln.

Bereits ab 1994 sah er die Mode nicht mehr als etwas Praktisches an sondern als Ausdrucksmittel – als eine Art Kunst. Diese Perspektive verdankte er seinem großen Vorbild JEAN PAUL GAULTIER. KARALEEV war begeistert von der Gewagtheit des französischen Modeschöpfers, seinen seltsamen Schuhen, den verrückten Drucken und den zerrissenen Kleidern. KARALEEVS Markenzeichen sind die bewusst offen gelassenen Säume der Kleidung. Wie er im Interview mit SPEX berichtet, seien diese für ihn verzichtbar, da sie den Kleidern eine gewisse Schwere verliehen. Die losen Fäden, die von den offenen Enden herunter hängen, verwirren im ersten Moment. Oft schon, erzählt KARALEEV, hätten ihn seine Kunden gefragt, ob die einzelnen Stücke schon fertig genäht seien. Dem Vorwurf, seinen Schnitten mangele es an Qualität, entgegnet der Designer, dass seine Kleider sauber und professionell verarbeitet sind. Das Ziel seiner Arbeit ist klar definiert: Sie soll die Kleidung vereinfachen. Überdesignte Mode ist nicht sein Stil.

Die gelben Scheinwerfer strahlen den Models in ihr blass geschminktes Gesicht. KARALEEV selbst ist in einen dunklen Schatten gehüllt. In der Nähe des Ausgangs steht er an einer Trennwand gelehnt, von der aus er konzentriert das Geschehen beobachtet. Man kann die Silhouette seiner großen, schlaksigen Figur nur erahnen. Als eine Kamera auf sein Gesicht gerichtet wird, scheint es sich für einen kurzen Moment zu verdunkeln. Der ganze Trubel, die Presse, das Blitzlichtgewitter – das alles ist nicht seine Welt. Er selbst sieht sich als „Createur“, nicht als Modestar. Entsprechend wirkt er etwas scheu, nicht so introvertiert wie CONSUELO CASTIGLIONI, die schüchterne Gründerin des Labels MARNI, aber man merkt sofort, dass er nicht gern im Rampenlicht steht. Genau diese zurückhaltende Art und das Leuchten in seinen Augen, wenn der ganze Raum zum Finale applaudiert, machen ihn so liebenswert. Es reißen sich seit seinem ersten Fashion Week Auftritt alle Leute um ihn. Noch am selben Abend steht VLADIMIR KARALEEV wieder in seinem Studio. Hier fühlt er sich zuhause.

Links: homepage

(Foto: PETROV AHNER)