Portrait

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REGINA WEBER – Eine Modedesignerin mit Fernweh

Eine Küche irgendwo in Neukölln. REGINA WEBER sitzt mit ein paar Freund_innen am Tisch und erklärt den Unterschied zwischen den verschiedenen japanischen Schriftzeichen-Systemen. „Davon gibt es drei, sie kommen jeweils in anderen Bereichen zur Anwendung“, sagt sie lächelnd durch die schwarz umrandete Brille, die sie seit neuestem trägt. Die braunen Haare hat sie wie immer zum Zopf gebunden, am Rand ihres unteren Augenlides hat sie sich mit schwarzem Kajal einen Punkt gesetzt. Sprechen kann sie die Sprache auch schon ganz gut: „千里の道も一歩から。“. Der deutsche Akzent ist fast gar nicht rauszuhören. Warum sich die aufstrebende Mode-Designerin so gut mit dem Japanischen auskennt? Ganz einfach: Ab September wird sie dort ein Jahr studieren.

Es ist genau dieser Durst nach Neuem, diese Reiselust, die REGINA WEBER auszeichnet. Wann immer sie kann, packt sie ihre Koffer, um die Welt zu entdecken. So bereiste sie bereits den Nahen Osten, Zentralasien bis Fernost: China, Neuseeland, Oman, Tibet, Georgien, Nepal, Usbekistan und Sri Lanka. Direkt nach dem Abitur verbringt die Designerin aus Bayern jedoch erst einmal ein Jahr in Shanghai, bevor sie sich in Berlin niederlässt, um hier Chinesisch zu studieren. Nach zwei Semestern wirft sie jedoch hin. Der Grund: Sie will etwas anderes machen, genauer, zu ihrem eigentlichen Plan zurückkehren. „Im Herzen trug ich immer noch den Wunsch etwas mit Mode zu machen“, erzählt sie wenig später am Abend im Zwielicht einer Kerze. REGINA ist schon seit ihrer Jugend klar, dass Mode ihr Metier ist. Es ist der Schaffensprozess, der sie begeistert – ein selbstgemachtes Produkt in den Händen zu halten, etwas zu schaffen, an dem jemand Freude hat. Anfangs zögert sie noch diesen Weg einzuschlagen, doch als sie eines Tages eine Jacke des bulgarischen Designers VLADIMIR KARALEEV im Concept-Store APARTMENT erspäht, ändert sich das schlagartig: „Ich war hin und weg von der abgefahrenen Jacke“, berichtet sie. Vor allem fasziniert sie die Ästhethik des Designers, der seine Kleider nicht anhand einer Skizze fertigt, sondern sie im Orginalstoff an der Puppe drapiert.

Doch nicht nur die Leidenschaft für Mode wird durch das Kleidungsstück neu entfacht. Zugleich fasst sie an diesem Nachmittag den Entschluss für VLADIMIR zu arbeiten. Nach unzähligen Anrufen und Emails, fängt sie schließlich im Herbst 2010 als Assistentin bei dem Designer an. Sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für den Job aussuchen können: Es ist die Zeit vor VLADIMIRS großem Durchbruch. Heute zählt er zu den angesagtesten Berliner Designern. Von Beginn an wurde ihr viel Verantwortung übertragen: Innerhalb von drei Wochen stellt Regina zusammen mit dem Designer eine Modenschau bei der MERCEDES BENZ FASHION WEEK auf die Beine. Und das ohne jegliche Erfahrung. „Aber so arbeitet VLADIMIR nun mal“, sagt REGINA. Sie ist mittendrin, näht die Nächte durch, lernt Tag für Tag die Wichtigsten des Modezirkus kennen und hat so viel Adrenalin wie noch nie im Blut. Das ist genau das, was sie machen will. „Ich konnte das alles gar nicht fassen“, sagt sie mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck.

VLADIMIR ist jedoch erst der Anfang. Außerhalb des Ateliers arbeitet REGINA an ihrer Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule Weißensee, an der sie nun seit drei Semestern Modedesign studiert. Ihr Talent spricht sich rasch herum, SISSI GOETZE heuert sie als Assistentin an. Von körperumhüllender Frauenmode eines VLADIMIR KARALEEV wagt REGINA den Schritt zu formvollendeter, perfekt geschnittenen Männerdesigns, die ihr einen anderen Blick auf die Mode ermöglichen. SISSI ist jedoch weit mehr als nur ihre Chefin. Sie ist eine wichtige Mentorin, als REGINA sich an ihre eigene Kollektion wagt. Die Fragen „Wie sieht meine eigene Mode aus?“ und „In welche Richtung soll es mit meinen eigenen Designs gehen?“ stehen schon länger im Raum und als VLADIMIR, selbst in den Ferien in Italien, REGINA das Studio für drei Wochen zum Arbeiten überlässt, scheint der Zeitpunkt genau richtig. Es ist Hochsommer und das Studio in der Leipziger Straße, aufgeheizt wie eine Sauna, ist nur bei Nacht erträglich zum Arbeiten.

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Die ersten Entwürfe enstehen, doch Regina wird ihren Ansprüchen noch nicht gerecht. Zu ähnlich sind die Designs denen VLADIMIRS. Nach und nach gelingt es ihr jedoch, ihre eigene Note herauszuarbeiten und in zweieinhalb Wochen entstehen fünf Oufits, die ihre persönliche Handschrift tragen. Im Zentrum stehen Strukturen. Ungewohnte Materialien inspirieren sie und so werden Putzlappen, Fahrradschläuche und ein einem Duschvorhang ähnlicher Stoff in die Entwürfe integriert und verfremdet. Von Weitem nimmt der Fahrradschlauch die Charaktereigenschaften von Leder an, erst auf den zweiten Blick erkennt man das eigentliche Material. Ein Kleid sticht aus der Kollektion besonders heraus. Eine selbstgefertigte Wachsstruktur wird auf weißen Stoff appliziert und mit einer transparenten Hülle verschleiert. Es ist ein Kleid, so einzigartig schön, dass es einem die Sprache verschlägt. „Den eigenen Stil zu finden ist eine große Herausforderung“, sagt REGINA ernst. Doch wie immer meistert sie diese Aufgabe bravourös.

Neben all diesen einmalig tollen Erfahrungen hat REGINA auch die Schattenseiten des Modebetriebs kennengelernt: Den Modekritikern mangelt es oftmals an Respekt. Zwar dauert eine Show meist nicht länger als 15 Minuten, doch steckt sehr viel Arbeit dahinter, einige 80-Stunden-Wochen inklusive. „Mode ist kein Spaßding und kann schnell an die Substanz gehen“, sagt REGINA. Genau das wird häufig vergessen, wenn leichtfertig Kollektionen verrissen werden. „In Deutschland gibt es nicht genügend Wertschätzung für Mode“, erklärt sie während sie Wein in ihr Glas schenkt. Ihre Nägel glitzern vom goldenen Lack. Dies ist auch einer der Gründe, warum junge Modedesigner von einem unbezahlten Praktikum ins nächste fliehen, es fehlt die Anerkennung. REGINA weiß wovon sie spricht, sie hat das alles am eigenen Leib erfahren.

Dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen und will auf jeden Fall weitermachen. All die Erfahrungen, ob gut oder schlecht, haben sie geprägt. Wohin die Reise gehen wird, steht noch offen. „Alles ist möglich“, sagt die Designerin. Wahrscheinlich wäre zu viel Gewissheit auch langweilig für einen Menschen wie REGINA. Eins steht aber sicher fest: Die Mode wird es sein. Erstmal heißt die nächste Station jedoch: Japan!

MARIE-THERESE HAUSTEIN bekommt bei „Whiskey Sour“ von MOLLY NILSSON Gänsehaut und überquert ab Ende Februar jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit die Seine.

(Foto: FALKO SAALFELD)

Portrait

LENNART ETSIWAH – ein Modefotograf mit eigenem Stil

Es ist ein verregneter Winternachmittag in Prenzlauer Berg. Im Café AN EINEM SONNTAG IM AUGUST drängen sich die Gäste, trinken warme Getränke, rauchen und unterhalten sich angeregt. Aus der Anlage dröhnt Raggae-Musik. Nicht die besten Bedingungen für ein Interview. LENNART ETSIWAH scheint der Trubel um ihn herum jedoch nicht zu stören. Ruhig und gut überlegt formuliert der Modefotograf seine Sätze. „Ich musste damals meinen eigenen Weg gehen”, sagt er lächelnd in Bezug auf sein abgebrochenes Abitur. In der Tasse vor ihm dampft heißer Kaffee, daneben qualmt eine Zigarette im Aschenbecher.

LENNART ETSIWAH, das wird schnell klar, weiß, was er will und was nicht. Seine Entscheidungen trifft er selten spontan. So ist auch der Entschluss, sein Abitur zwei Wochen vor der ersten Prüfung zu schmeißen von langer Hand geplant. Den Segen seines Vaters hat er. Diese Überlegtheit soll sich später fortsetzen: Seinem Kommunikationsdesign-Studium an der Hoch- schule für Angewandte Wissenschaft Hamburg geht ein Jahrespraktikum beim Medienbüro Hamburg voraus und die Gewissheit, dass mit Fotoreportagen kein Geld mehr zu verdienen ist. In der Modebranche allerdings schon, der er anfänglich noch skeptisch gegenübersteht. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit ihr kann die Zweifel zerstreuen, es reizt ihn die Welt zu sehen und das gehört als erfolgreicher Modefotograf zum Alltag.

Ästhetisch hat LENNART ETSIWAH eine klare Vision. Er steht auf Minimalismus. Nichts soll ablenken von den gezeigten Kleidern. Seine Arbeiten erinnern an die Ausdrucksstärke PETER LINDBERGHS, genauer: an das Portrait der jungen KATE MOSS, die der deutsche Fotograf in einer blauen Latzhose ablichtete. Beim Anblick von LINDBERGHS Bildern hat man das Gefühl zu versinken. Für einen Moment ist man gebannt von der Schönheit, die von ihnen ausgeht. LENNARTS Bilder strahlen eine ähnliche Aura aus. Weiches Licht verschwindet in der Unschärfe des Hintergrundes und lenkt den Blick gekonnt auf die starke, schnörkellose Pose und die Schönheit des Models. LENNART erzählt mit seinen Fotos eine Geschichte, die über das Gezeigte hinausgeht. Er lässt diese jedoch immer offen, wodurch die Fantasie des Betrachters angeregt wird. Auf diese Weise verleiht LENNART den Bildern eine für Modefotografie untypische Tiefe.

Genauso durchdacht ist seine Arbeitsweise. Von Markenfetischen bei Kameras hält LENNART nichts. „Eine Kamera trägt zu einem Foto nicht viel bei, das meiste geht vom Fotografen aus”, sagt der 27-Jährige. Seine erste Kamera war eine OLYMPUS OM 20, eine Spiegelreflexkamera, die er seinem Freund für 50 Mark abkaufte. Inzwischen benutzt er mehrere verschiedene Modelle. Auch die Frage, ob es besser sei analog oder digital zu fotografieren, betrachtet er weniger dogmatisch. Er selbst fotografiert am liebsten analog, wenn es die Zeit zulässt. Anschließend scannt er die Negative ein und bearbeitet diese auf dem PC. Auf diese Art bekommen die Fotos einen eigenen Charakter und gleichzeitig einen Wiedererkennungswert.

Den eigenen Stil zu finden, darum geht es LENNART auch privat. Entsprechend macht er sich nicht viel aus Trends. Im Klub trägt er auch mal gerne seine blaue Schlafanzughose, wenn er sich danach fühlt. LENNART hebt mit seinem Äußeren seine Stimmung hervor. „Wenn es mir gut geht, will ich das meiner Umgebung zeigen“, sagt er. Seiner Meinung nach ist es für die meisten Menschen einfacher in eine andere Persönlichkeit hineinzuschlüpfen, als ihre eigene zu entdecken. Und so kopieren viele oft Kleidung und versuchen jemand zu sein, der sie gar nicht sind.

Was sein späteres Berufsleben anbelangt, hat LENNART klare Vorstellungen. Statt für große Hochglanz-Zeitschriften wie die Vogue, möchte er lieber für kleinere Independent-Magazine arbeiten. An Indie-Magazinen wie I LOVE YOU schätzt LENNART, dass sie mehr Platz zum Experimentieren lassen und einem weniger strikten Raster folgen. Während seines Studiums arbeitete LENNART bereits an verschiedenen Produktionen in Deutschland und Europa mit. Das Geld, das er damit verdiente, steckte der Fotograf in eigene künstlerische Projekte, die nicht immer etwas mit Mode zu tun hatten. So ist er Autor eines Fotobuches, welches das Zusammenleben und die Trennung zweier Menschen thematisiert.

Sein nächstes Ziel hat LENNART bereits vor Augen: Er will seinen Master in New York City machen. Während eines dreiwöchigen Urlaubs hat er sich in die Stadt verliebt, sie in sich aufgesaugt und, wie so viele andere vor ihm, beschlossen wiederzukommen. Für ihn ist die Stadt kein Klischee, es gibt wirklich diese besondere Spannung und die unendlichen Möglichkeiten. „Man stellt einen Wunsch an das Universum und der wird in New York gleich erfüllt“. Die Leute dort würden einfach mehr an einen glauben. Nicht das er das nötig hätte.

MARIE-THERESE HAUSTEIN würde am liebsten jeden Tag ein Kleid von VLADIMIR KARALEEV tragen. Nachts träumt sie von New York.

Foto: DAVID BÖCKMANN

//Portrait


Es ist noch früh am Morgen, als VLADIMIR KARALEEV mit einem Becher Kaffee in der Hand aus einem schwarzen Taxi steigt. Der rote Teppich, der zu dem großen weißen Zelt führt, wird gerade erst ausgerollt. Am Eingang haben sich die muskelbepackten Securities bereits in Stellung gebracht, deren tiefschwarze Anzüge das Licht der aufgehenden Sonne reflektieren. Auch die ersten Models sind schon eingetroffen und suchen verschlafen aussehend die Garderobe. Gefolgt von seinen beiden Assistentinnen betritt auch KARALEEV das Innere des Zeltes. Drei Stunden bleiben ihm noch, um seine Show vorzubereiten. Alles muss sitzen, schließlich ist seine Präsentation eine der gefragtesten der BERLIN FASHION WEEK 2011.

Noch vor zehn Jahren hätte er sich diesen Erfolg nicht träumen lassen. Damals, als er nach Berlin kam, um an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Mode zu studieren, wollte VLADIMIR KARALEEV lediglich der gesellschaftlichen Enge seines Geburtslandes Bulgarien entfliehen und seine Träume verwirklichen. 1981 in Sofia geboren, kam er schon früh mit der Mode in Berührung. Oft  schaute er seiner Tante beim Nähen zu. Er war fasziniert davon, was sie aus ihren vielen unterschiedlichen Stoffen herstellte. Wenig später, im Alter von 14 Jahren, entwarf er bereits seine eigenen Outfits, zunächst nur für seine  Freunde, die sie auf Rave-Partys trugen. Regenmantelstoffe, Riesenhüte und Shirts mit Alien-Prints darauf, das waren seine ersten Kreationen. Sein liebstes Ensemble waren BJÖRK, GOLDIE und GAULTIER.

Die Musik beginnt, die Klänge des Stücks „I’m in Love with a German Film Star“ der britischen  Dream-Pop-Combo THE PASSIONS wabern durch den schwarzen Raum, den das Scheinwerferlicht in gelbes Licht taucht. Eines nach dem anderen betreten die Models die Bühne, die sich aus acht würfelförmigen Podesten zusammensetzt. Statt steifen, skulptural wirkenden Stücken tragen sie Kleider, die zu zerfallen scheinen und dabei von einer eigenen, eindrücklichen Schönheit sind. Das Geheimnis der Konstruktion der Kleider wird dem Betrachter nur durch KARALEEVS raffiniertes Layering offenbart, durch das an einzelnen Stellen das Futter durchblitzt. Charakteristischen Elementen wie Reißverschlüsse, Bündchen und Taschen beraubt der Designer ihrer eigentlichen Funktion, wodurch ihr ästhetisches Potential in den Vordergrund tritt. Trotz der statischen Präsentation scheinen die leicht fließenden Stoffe ständig in Bewegung zu sein und sich im Licht zu wandeln.

Bereits ab 1994 sah er die Mode nicht mehr als etwas Praktisches an sondern als Ausdrucksmittel – als eine Art Kunst. Diese Perspektive verdankte er seinem großen Vorbild JEAN PAUL GAULTIER. KARALEEV war begeistert von der Gewagtheit des französischen Modeschöpfers, seinen seltsamen Schuhen, den verrückten Drucken und den zerrissenen Kleidern. KARALEEVS Markenzeichen sind die bewusst offen gelassenen Säume der Kleidung. Wie er im Interview mit SPEX berichtet, seien diese für ihn verzichtbar, da sie den Kleidern eine gewisse Schwere verliehen. Die losen Fäden, die von den offenen Enden herunter hängen, verwirren im ersten Moment. Oft schon, erzählt KARALEEV, hätten ihn seine Kunden gefragt, ob die einzelnen Stücke schon fertig genäht seien. Dem Vorwurf, seinen Schnitten mangele es an Qualität, entgegnet der Designer, dass seine Kleider sauber und professionell verarbeitet sind. Das Ziel seiner Arbeit ist klar definiert: Sie soll die Kleidung vereinfachen. Überdesignte Mode ist nicht sein Stil.

Die gelben Scheinwerfer strahlen den Models in ihr blass geschminktes Gesicht. KARALEEV selbst ist in einen dunklen Schatten gehüllt. In der Nähe des Ausgangs steht er an einer Trennwand gelehnt, von der aus er konzentriert das Geschehen beobachtet. Man kann die Silhouette seiner großen, schlaksigen Figur nur erahnen. Als eine Kamera auf sein Gesicht gerichtet wird, scheint es sich für einen kurzen Moment zu verdunkeln. Der ganze Trubel, die Presse, das Blitzlichtgewitter – das alles ist nicht seine Welt. Er selbst sieht sich als „Createur“, nicht als Modestar. Entsprechend wirkt er etwas scheu, nicht so introvertiert wie CONSUELO CASTIGLIONI, die schüchterne Gründerin des Labels MARNI, aber man merkt sofort, dass er nicht gern im Rampenlicht steht. Genau diese zurückhaltende Art und das Leuchten in seinen Augen, wenn der ganze Raum zum Finale applaudiert, machen ihn so liebenswert. Es reißen sich seit seinem ersten Fashion Week Auftritt alle Leute um ihn. Noch am selben Abend steht VLADIMIR KARALEEV wieder in seinem Studio. Hier fühlt er sich zuhause.

Links: homepage

(Foto: PETROV AHNER)

//Portrait

Mit experimenteller Musik Geld zu verdienen, ist nicht einfach. Viele Konzerträume in Berlin machen daher bei der Planung ihres Programms einen großen Bogen um Bands, die mit ihrer Arbeit neue Klangräume erschließen. Seit 2007 gibt es in Berlin die Musikbar Madame Claude, die genau diesen MusikerInnen ein Zuhause bietet. Im Gespräch mit cartouche. berichteten die Barbetreiber, wie sie das Finanzierungsproblem lösten ohne dabei Kompromisse eingehen zu müssen.


„Wir spielen Musik, die sonst keiner will“, sagt Jean-Christophe Simon. Treffender hätte der französische Konzertveranstalter das Programm seiner Bar Madame Claude kaum beschreiben können. Gerade mal drei Jahre alt, ist die Bar mit ihrem Musikkeller nicht nur eine feste Größe in der Berliner Alternativ-Szene, sondern auch ein wichtiger Anlaufpunkte für experimentelle Musiker aus Amerika, Australien und Europa. Auf der Bühne der Bar, die sich in den Räumen eines ehemaligen Bordells in der Nähe des Schlesischen Tors befindet, stehen vor allem jene Bands, die für die größeren Konzerträume Berlins nicht kommerziell und bekannt genug sind.

Als Madame Claude im Februar 2008 öffnete, gab es in Berlin kaum legale Konzerträume für unkonventionelle Musik. Der Bastard und die zentrale Randlage waren seit Kurzem geschlossen, lediglich die Kollektive des Schokoladens und des West Germany interessierten sich für internationale KünstlerInnen aus experimentellen Stilrichtungen wie Drone, Noise oder Anti-Folk. Da sich Konzerte in Berlin erst ab 300 Zuschauern lohnen, ließen viele größere Lokale die Hände von Bands, die in der Stadt nicht weiter bekannt waren. Avantgardistisch zu sein brachte eben noch nie das große Geld. Dieses Problem lösten Simon und seine drei Mitstreiter Julien Bouille, Sebastien Becote und Sylvain Livache mit einem Konzept, das man unter anderem aus Berliner Hausprojekten und Galerien kennt: Mit den Einnahmen aus der Bar schafften sie die Grundlage für ihre Konzerte. „Das war in unseren Augen die einzige Möglichkeit, legal kleinere Bands nach Berlin zu holen“, berichtet Simon.

Die Idee ging auf. Inzwischen ist Madame Claude auch über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. Angesagte KünstlerInnen wie die Berufsexzentrikerin Kevin Blechdom oder Animal-Collective-Gitarrist Deakin spielten in der Musikbar genauso wie viele kleinere Acts aus Australien, Italien oder Frankreich. In der Bar Madame Claude konnten sich die MusikerInnen sicher sein, auf ein größeres und aufgeschlossenes Publikum zu treffen, selbst wenn sie eine halbe Stunde lang nur einen einzigen Ton spielten. Inzwischen laufen pro Woche vier Konzerte mit anschließendem DJ-Set. Bouille, der für das Booking zuständig ist, bekommt pro Tag 20 bis 40 Konzertanfragen. Für die Konzerte gibt es keinen festen Preis. „Die Leute sollen zahlen, was sie können. Dafür bieten wir ihnen das Beste, was wir können“, erläutert Bouille.

Ende 2010 eröffnete das Kollektiv einen externen Konzertraum an der Jannowitz-Brücke: Marie Antoinette. Dort passen nicht nur mehr Leute rein, die Bands haben im Gegensatz zur Bar Madame Claude auch die Möglichkeit, ein Schlagzeug zu benutzen. Um den Raum zu finanzieren, wird er auch an Hochzeitsgesellschaften oder Tanzschulen vermietet. Im Marie Antoinette waren bereits die Lo-fi-Veteranen Owen Ashworth alias Casiotone for the Painfully alone und Ariel Pink zu Gast.

Durch ihre Arbeit haben sich Simon und seine drei Mitstreiter ein kleines Netzwerk aufgebaut. Zum einen sind sie mit den BetreiberInnen des West Germany, Antje Öklesund und Schokoladen befreundet, mit denen sie gemeinsam auf Konzerte gehen. Zum anderen zählen zum Freundeskreis des Kollektivs eine ganze Reihe von MusikerInnen, die schon öfter bei Madame Claude und Marie Antoinette gespielt haben. Die Noise-Popper von Ditto Destroyer, Velvet Condom oder Ania et le Programmeur sind gern gesehene Gäste und gehören zu den interessantesten Acts der Experimental-Szene. Einige Mitglieder dieser Bands arbeiten sogar in der Bar, putzen dort den Boden oder stehen hinterm Tresen, um sich für ihre Kunst etwas dazuzuverdienen. „Damit ermöglichen wir den Musikern, in Berlin zu bleiben und die Musik zu machen, die sie wollen“, resümiert Simon. So wird die Bar Madame Claude tatsächlich dem eigenen Anspruch gerecht: ein Zuhause für Musik zu sein, die sonst keiner will.

Links: madame claude / marie antoinette / west germany / schokoladen / antje öklesund / ditto destroyer / velvet condom / ania et le programmeur

(Fotos: JJ WEIHL / MADAME CLAUDE)