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A  VERY SPECIAL CHRISTMAS, NOW & THEN

Was würde sich als Analysegegenstand des Mainstreams besser eignen, als eine hochwertige Weihnachtskompilation, deren Erfolgsgeschichte mittlerweile drei Dekaden umspannt? Geboren in den tiefsten Achtzigern, bildet A Very Special Christmas seither das Spektrum der zeitgenössischen Moden ab und hat in mittlerweile sieben Teilen einen Erlös von über 100 Millionen US-Dollar zu wohltätigen Zwecken eingespielt. Mehr als jede andere Benefizaktion der Musikindustrie. Wir messen die aktuelle an der ersten Ausgabe und stellen mit wissenschaftlicher Nüchternheit die bahnbrechende These auf: Manches war früher einfach besser.

Die Marke A Very Special Christmas ist eine Erfindung von JIMMY IOVINE, Musikproduzent und gläubiger Katholik, der seinem verstorbenen Vater mit einem Weihnachtsalbum die letzte Ehre erweisen wollte. IOVINES Frau VICKI entwickelte 1987 die Idee eines Benefizalbums für die Paralympics. Alle waren begeistert, die Plattenbosse von A&M griffen tief in ihre Taschen, der nicht ganz jugendfreie Künstler KEITH HARING lieferte das Artwork. Auf der ersten Scheibe von ‘87 stehen große Namen: SPRINGSTEEN, PRETENDERS, MADONNA, RUN DMC, STEVIE NICKS, WHITNEY HOUSTON, BRYAN ADAMS und U2.

A Very Special Christmas entstand zu einem Zeitpunkt, als die Musikindustrie einen wirtschaftlichen Strukturwandel durchmachte. In der Süddeutschen Zeitung verortet JOHN MELLENCAMP diesen Prozess mit seiner Kulturkritik der Musikindustrie in die Periode der späten Achtziger und frühen Neunziger. „Plattenfirmen betrachteten sich auf einmal nicht mehr als Vermittler von Musik, sondern als Teil der Wallstreet-Manipulatoren. Firmen wurden übernommen, fusioniert, verkauft – Börsengänge folgten.“ Klangmaterial und Produktionsrahmen von A Very Special Christmas waren davon anfangs nicht betroffen, die ersten zwei Teile der Serie entstehen noch im ancien regime (MELLENCAMP ist übrigens auf Nummer Zwei zu hören). Auf welche Weise die sich ändernden wirtschaftlichen Parameter der Maschine Mainstream mit der Musik rückkoppeln, lässt sich an den späteren Ausgaben von A Very Special Christmas sehr gut abhören.

Um den Vorwurf der Unfairness gleich auszuräumen – die Verkäufe haben zwar nachgelassen, doch noch immer ist eine Menge Geld im Spiel und das Format lebt. Compilations wie Bravo oder Thunderdome gehen immer wieder, jede Generation scheint aufs Neue das Bedürfnis nach Weihnachtsliedern in der verpoppten Darbietung ihrer Contemporaries zu haben. Gerade erst bog THE BIEBER mit „Under the Mistletoe“ um die Ecke.

 SUPERSTARS VS MEGASTARS

Wie schneidet das mit Vierfach-Platin ausgezeichnete Original von 1987 nun gegen den neuesten Teil von 2009 ab? WHITNEY HOUSTON war fresh. RUN DMC sowieso. Das restliche Angebot reichte von alten Hasen wie STEVIE NICKS bis BRUCE SPRINGSTEEN. An ihrer Markttauglichkeit, die PRETENDERS waren seit 10 Jahren im Geschäft, gab es keinen Zweifel. NICKS steuerte zu FLEETWOOD MACS Monsteralbum Rumours aus dem Jahr 1976 mehrere Hits bei, SPRINGSTEENS großer Durchbruch gelang sogar ein Jahr früher mit „Born To Run“. NICKS und SPRINGSTEEN erlangten den Weltruhm gleichermaßen nicht über Nacht. Sie waren keine Sternchen oder Gelegenheitsjobber, angespült aus anderen Entertainmentsparten, um zum richtigen Zeitpunkt der Idee eines Marketingstrategen ihr menschliches Gesicht zu verleihen. Vielmehr hatten sie sich an den überaus intakten Durchlässigkeitsfiltern des Mainstream vorbeigekämpft. Was noch bemerkenswerter ist: Mit Ausnahme ALISON MOYETS sind sämtliche Künstler von damals noch immer erfolgreich im Geschäft. Eine Vielzahl von ihnen hat das Management längst selbst übernommen, sofern sie jemals fremdgesteuert waren. 1987, das war vor 25 Jahren.

Heute reden wir über den Niedergang der Musikkultur. Da, wo das Big Business verhandelt wird, ist für den Aufbau von langfristigen Karrieren keine Risikobereitschaft mehr vorhanden. Popularität speist sich aus einer mehrkanaligen Sichtbarkeit, die zumeist viel Geld kostet. Klar, dass auf der siebten Compilation von 2009 die Kindertraumtotengräber MILEY CYRUS, ASHLEY TISDALE und CARRIE UNDERWOOD ihre überzogenen Koloraturen einsingen durften. Wir kennen sie aus Funk und Fernsehen. Kein Plattenboss hätte WHITNEY HOUSTON neben diese Disneyfiguren platziert, es wäre zu viel der Scham gewesen, zu offensichtlich die gesangliche Überambition der Epigonen neben der maßvollen Dramaturgie des Originals. Nun macht Houstons früher Tod diese Gegenüberstellung unmöglich.

 SOUND

Die Eskalation und Überreizung der gesanglichen Stilmittel findet ebenso ihren Wiederhall im Technischen. JIMMY IOVINE, dieser große Produzent, überwachte die klangliche Konsistenz der ersten zwei Alben von ‘87 und ‘92. Als Assistent drehte er bei den letzten Aufnahmen von JOHN LENNON an den Reglern und produziert heute für JAY-Z. Kaum einer bewegt sich so leichtfüßig zwischen den Genres wie IOVINE. Wenig verwunderlich, dass A Very Special Christmas experimentelle Momente hat. Da sind die irritierenden Dissonanzen im Intro zu „Winter Wonderland“, bevor ANNIE LENNOX ihren seidenen Guttural hineingibt. Auch der Text des Weihnachtsliedes ist hier ironisch abgewandelt. Oder dort, die Background-Girls bei JOHN COUGAR MELLENCAMP verfallen am Ende von „I saw Mommy kissing Santa Claus“ in die Stimmlage pubertierender Weihnachtsengel. Zum Schießen. Die Kompilation von 2009 bietet dergleichen nicht.

 SONGS

„Christmas (Baby Please Come Home)“ ist auf beiden Platten vorhanden, damals in der Einspielung von U2 versus LEIGHTON MEESTER im Jahr 2009. „Leighton who?“, werdet ihr fragen. Eigentlich als Darstellerin aus der Serie Gossip Girl bekannt, reüssiert sie hier zum ersten Mal als Sängerin, ist neben CYRUS, TISDALE und VANESSA HUDGENS das vierte Fernsehdarling auf der aktuellen Kompilation. Wo BONO tapfere Inbrunst aufzubringen vermag und das Produzententeam den ollen Song zur dramatischen Rocknummer aufbläst, herrscht bei MEESTER vollkommene Langeweile samt Radiosound. Der subtile Shuffle von LARRY MULLEN wird in der Neufassung durch einen das Chinabecken grob durchdreschenden Retortendrummer ersetzt, der Leadsynth verkündet lauthals seine En Vogueness. BONO ist den Tränen nahe, seine Trauer kommt von Herzen – wenn er beim Einsingen der triefenden Lines an verhungernde Aidskinder dachte, ist uns das einerlei. Der Zweck heiligt alle Mittel. Umnebelt von Autotune versucht MEESTER erst gar nicht, aus ihrem Sprechstimmumfang emporzusteigen, raunt uns ihren Text etwas unbeholfen-lasziv ins Ohr.

Wie Sex wirklich geht, machte MADONNA 1987 mit „Santa Baby“ vor. Bestimmt hat sie den rotbemützten Pummel später vernascht und Millionen Kids um ihre Geschenke gebracht. Ach, und die Streicher ergehen sich in kontrapunktischer Opulenz, Bögen von warmer Kompression strömen durch die Kanister. All Killer, no filler? Nein, zwei drei Nummern sind furchtbar. Zum Beispiel der Folkbarde BOB SEGER mit „Little Drummer Boy“. Wir sehen es ihm nach, er hat das kurze Streichholz unter den Weihnachtsliedern gezogen. ALISON MOYET wagt mit „A Coventry Carol“ eine Barocknummer in Acapella. Das erfordert Mumm, alle Achtung. Aber auch in diesen Entgleisungen äußert sich noch die gesunde Risikobereitschaft.

„Es ist ja nicht so, dass die Menschen Musik nicht mehr lieben. Es ist nur die Art, wie sie angeboten wird, die nicht mehr viel Menschliches hat“, schreibt MELLENCAMP. Kulturpessimismus? Mitnichten, der alte Mainstream hat so viel populäre Hochkultur produziert, dass wir davon noch lange zehren können. Wer braucht schon ein weiteres Weihnachtsalbum, wenn es A Very Special Christmas in der ersten Ausgabe von 1987 gibt.