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OLD APPARATUS – Derren EP / Realise EP / Alfur EP / Harem EP

Es ist nicht ganz klar, wann die Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Aber ach, was sind wir es leid. Wahrscheinlich fing es nicht an mit BURIAL; war es BANKSY? Egal. Was die Musik betrifft, so erscheint es am einfachsten, die Ursache wie üblich ‚im Internet’ zu verorten. Gewiss ist jedenfalls: Jemand sollte all den jungen Produzenten einmal mitteilen, dass die Sache sich erledigt hat, dass alles zumeist nur noch wie ein müder Abklatsch eben jenes BURIAL wirkt: Künstlerische Anonymität.

Sie macht natürlich, ganz oberflächlich betrachtet, viele Dinge einfacher, und gelegentlich scheint sie sogar unumgänglich, und ohne Frage hat die virtuelle Welt vieles in dieser Hinsicht erst ermöglicht mit ihren ungezählten unbeleuchteten Ecken, den Foren und Newsgroups, der Pornografie und der Kriminalität, und natürlich der Aufklärung, betrachtet man sie nun als tatsächlich oder als nur vorgeblich: ANONYMOUS wäre nichts ohne das Internet; eine GUY-FAWKES-Maske allein schützt nur schwerlich vor staatlichem Zugriff. Von Letzterem abgesehen aber dient Anonymität zumeist einem gänzlich anderen Zweck: Sie stellt ein bequemes Mittel bereit zur kognitiven Verantwortungsverschiebung. Ist mein Alter Ego erst einmal etabliert, so eröffnet sich die Möglichkeit, die Persönlichkeit zu spalten; nicht ich habe es getan, sondern der/die/das Andere, das zugleich Ich und nicht Ich ist. Man frage einmal nach bei der Kriminalpsychologie.

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In der Musik jedoch funktioniert dies nur bedingt, und deshalb erstaunt es umso mehr, dass es in den vergangenen Jahren fast schon zur Normalität geworden ist, jedenfalls abseits des Mainstream, mit Werken konfrontiert zu werden, deren Urheberschaft bewusst im Unklaren gelassen wird. Man könnte versucht sein, diesen Trend positiv zu deuten, denn Anonymität könnte ja auch den Verzicht auf jegliche Eitelkeiten heißen; zumeist ist es jedoch lediglich der Versuch der Immunisierung gegen Kritik. Häufig heißt es, man bleibe lieber verborgen, damit sich der Kritiker/Hörer nicht mit der Person auseinandersetze, sondern allein mit der Musik. Aber das ist natürlich Blödsinn. Allzu leicht passiert das genaue Gegenteil; nicht die Musik wird zum Mittelpunkt des Diskurses, sondern die Suche nach der Person hinter dem Werk.

Das Konzept anonymer Urheberschaft in der Musik funktioniert dann und nur dann, wenn das geschaffene Werk tatsächlich Eigenständigkeit gewinnt; wenn es den Autor in gewisser Hinsicht transzendiert und dieser somit im Grunde bedeutungslos wird. Das gewählte Pseudonym wird zum ‚Autor’. Bei BURIAL ist genau das der Fall; es fällt wohl kaum jemandem auf Anhieb der wirkliche Name ein, so er denn überhaupt stimmt; die Kritik feiert BURIAL, nicht WILLIAM BEVAN, dessen künstlerische Sprache so erhaben ist und unverkennbar einzigartig, dass die Idee singulärer Urheberschaft, etwas doch schlicht Menschliches, hinter solch unwirklicher Musik fast zu banal erscheint. Aber ein solcher Triumph des Werkes über den Autor ist die absolute Ausnahme, nicht die Regel.

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Allerdings, manchmal gelingt es eben doch, und ein Beispiel ist das britische Künstlerkollektiv OLD APPARATUS. Gegründet 2010 und zunächst in Erscheinung getreten mit Veröffentlichungen auf MALAS Label DEEP MEDI MUSIK, hat sich das Londoner Quartett im vergangenen Jahr durch die Gründung des eigenen Labels SULLEN TONE, das ausschließlich der Veröffentlichung ihrer eigenen Platten gewidmet ist, gänzlich vom gewohnten britischen Musikzirkus entfernt. Was das Konzept künstlerischer Anonymität angeht, gehen OLD APPARATUS dabei in gewisser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter als BURIAL, und erstaunlicherweise scheitern sie dabei nicht. Nicht nur die tatsächlichen Namen der Mitglieder bleiben verborgen hinter Pseudonymen, sogar diese Künstlernamen selbst gehen auf im Kollektiv: drei der vier EPs, die 2012 auf SULLEN TONE erschienen sind – Derren, Realise, Alfur und Harem – wurden jeweils komplett von einzelnen Mitgliedern geschrieben, vertont, und produziert; nur bei der ersten, Derren, handelte es sich um eine genuine Gemeinschaftsarbeit. Trotzdem erschienen sämtliche Platten unter dem Namen OLD APPARATUS; der Beitrag des Einzelnen geht auf in der Identität des Kollektivs. Hinzu kommt eine bis ins Detail ausgearbeitete, kohärente Gesamtästhetik, die auch zum Ausdruck kommt in den Videos, der Gestaltung der Plattencover, der Website, bei der Visualisierung der Live-Auftritte: Alles wird ohne Unterscheidung der Entität OLD APPARATUS als Urheber zugewiesen.

Musikalisch war das Quartett aufgrund der frühen Verbindung zu MALA allzu schnell im Dunstkreis von Dubstep abgeheftet worden, was schon bei den frühen Releases höchstens oberflächlich überzeugen konnte. Spätestens seit dem Wechsel zum eigenen Label und der Verfestigung der künstlerischen Vision ist eine solche Klassifizierung jedoch Makulatur. Die Stücke von OLD APPARATUS nehmen alles auf, von Post-Rock über Hip-Hop und R&B zu Noise und Industrial, mit zahllosen Referenzen, die auf eine intensive Beschäftigung mit dem gesamten Kanon vorwärtsgewandter britischer Musik der vergangenen 25 Jahre schließen lässt; mit einem besonderen Augenmerk auf Trip-Hop, den Katalog einflussreicher Labels wie WARP oder NINJA TUNE, und, ja, selbstverständlich auch frühem Dubstep. Es ist, auf den Punkt gebracht, Musik, die so nur im Vereinigten Königreich, ja wahrscheinlich sogar nur in London überhaupt denkbar erscheint.

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Die vier EPs unterscheiden sich dabei durchaus beträchtlich. Die einzelnen Producer kommen aus teilweise fast schon gegensätzlichen musikalischen Richtungen, und diese Prägungen finden direkten Niederschlag im Sound. Während das gemeinsam geschaffene Werk Derren noch am ehesten im Post-Dubstep zu verorten ist, insbesondere das dritte Stück, „Dealow“, schielen die Texturen der zweiten EP Realise eher in Richtung einer gebrochenen, desillusionierten Vision des Dancefloor: Man kann hierzu wahrscheinlich tanzen, wenn man bereit ist, alle Hoffnung fahren zu lassen. In der klaustrophobischen, dystopischen Suite des finalen Titeltracks findet die Tetralogie ihren ersten Höhepunkt. Alfur vereint den WARP-Katalog mit zahlreichen Referenzen zum Post-Rock, und weist mit dem Fabeltrack „Schwee“ die wahrscheinlich einzige perfekte ‚Single‘ des Kollektivs auf. Mit Harem schließlich findet die Reise ein geradezu sublimes Ende mit der für sich genommen wohl stärksten EP; die Strukturen verflüchtigen sich in ungeordnetem, psychedelisch angehauchtem Ambient, dequantisierte Rhythmen und bedrückende, ausgreifend angelegte Flächen lassen Harem tatsächlich wirken wie das Ende eines drogeninduzierten Trips, dessen Anfang nur noch verschwommen Teil der eigenen Erinnerung zu sein scheint. Das letzte Stück „Octafish“ endet in stiller, kontemplativer Resignation; ein Abschluss, der keine Auflösung bereithält. Jedoch, trotz dieser durchaus beträchtlichen Unterschiede in der Herangehensweise und im Sound, die auf jeder EP deutlich zum Ausdruck kommen, bleibt jeder Track stets unverkennbar ein Werk von OLD APPARATUS, nicht eines einzelnen Mitglieds.

Es ist das so konsequent, so bewusst durchgehaltene Gesamtkonzept, das die Stücke zusammenhält. OLD APPARATUS verkörpern mit ihrer Musik eine selbstverständliche Urbanität; in ihrem Werk kommt, und hier ähnelt ihr Ansatz durchaus dem BURIALs, der Charakter der spätmodernen Stadt zum Ausdruck, wodurch ihre Namenlosigkeit gerade erst sinnhaft wird: der Eklektizismus, die gewollten Brüche und die Mannigfaltigkeit der stilistischen Einflüsse eröffnen einen eigenen großstädtischen Kosmos, die Musik wird zum adäquaten Abbild der Metropole im 21. Jahrhundert. Das Dunkle, Bedrohliche der Musik, die bedrückte und bedrückende Stimmung, die sich durch praktisch alle Stücke als das eine prägende Leitmotiv zieht, verweist dabei auf die Isolation des Individuums, auf seine Entfremdung, wenn man es so betrachten mag; es ist dieser Kontext, der die anonyme Urheberschaft nicht nur konsequent, sondern geradezu unausweichlich erscheinen lässt; und nicht nur deshalb gehörten die vier EPs von OLD APPARATUS zu den faszinierendsten musikalischen Veröffentlichungen des Jahres 2012.

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HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter NO FEAR OF POP und schreibt auch sonst hier und da über Musik

(Foto & Artwork: SULLEN TONE)