Theorie

Kollektives Vergessen

Kultur ist nicht was im Museum steht oder in der Oper aufgeführt wird, Kultur ist was wir daraus machen. Viele von uns haben sich längst von der Idee einer festen Leitkultur verabschiedet und bauen sich mit Filmen, Buttons, Kleidung, Tätowierungen, Büchern und dem eigenen Musikgeschmack einen auf den Leib geschneiderten Bedeutungskosmos auf. Oft vergessen wir dabei um die Geschichte oder ehemalige Bedeutung von Gegenständen, Handlungs- und Verhaltensweisen oder aber beziehen uns ganz bewusst darauf – oft Jahrzehnte später in einem neuen, vielfach kommerziellen Kontext. Aspekte globaler Kulturen leben demnach in ihrer/unserer Praxis und werden dabei fortlaufend umgedeutet. Das Stichwort lautet: Neukontextualisierung. Denn die Dinge sind nicht, was sie sind. Sie sind, was wir denken was sie sind und was wir mit ihnen anstellen.

„…das Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi”

So viel Ehrlichkeit vorweg: fand ich diese im Internet dokumen- tierte Einschreibung im öffentlichen Raum anfangs noch originell, so wurde dieser Eindruck schnell wieder revidiert. Stöbert man nämlich im kollektiven Gedächtnis des Internets, stellt sich diese Aussage als viel und leider oft auch falsch zitierte Plattitüde heraus. Neben oben angeführtem Vergleich tauchen noch Metaphern auf wie „Das Leben ist ein Zeichnen ohne Radiergummi” oder „Das Leben ist Zeichnen ohne Radiergummi”. Wahlweise werden der österreichische Maler und Schriftsteller OSKAR KOKOSHKA oder ein gewisser KEES SNYDER als Urheber angeführt. Dabei scheuen die Zitierenden weder vor der hochintellektuellen Ausformulierung ihrer individuellen Deutungsmuster, noch schrecken sie vor der Instrumentalisierung geliehenen Gedankenguts zur Bewerbung der gnostischen Lehre bzw. zur Aufklärung gegen Schwangerschaftsabbrüche zurück. Zwar kenne ich den genauen Entstehungskontext dieser Aussage nicht, die den Autoren oftmals nicht anführende Reproduktion im Internet und auf bedruckten Radiergummis im Schreibwarenladen jedoch macht den Eindruck, als habe dieser Satz ein „Eigenleben” entwickelt. Losgelöst von seinem ursprünglichen Kontext und der hochkommunikativen, öffentlichen Dynamik einer transformierenden Gesellschaft unterworfen, wird der Satz zum geflügelten Wort.

Dieses Phänomen ist keineswegs einzigartig, sondern vollzieht sich seit jeher mal auffälliger und mal unauffälliger. Eine begünstigende und öffentlich einsehbare Plattform für derartige Umdeutungen von Sinnzusammenhängen und Konnotationen ist heute das Internet. Dieses globale Netzwerk macht es nicht nur möglich in höherer Geschwindigkeit zu kommunizieren, sondern auch immer wieder kulturelle Grenzen hinter sich zu lassen. Musiker und Designer, Architekten und Schriftsteller, Musik- und Modefans – viele zitieren heute und gehen dabei sehr selektiv vor. In Anlehnung an menschliches Schaffen, tradierte Mythen, Bauwerke, Lieder und Geschichten, werden Dinge im Jetzt erschaffen, welche selbst in detailgetreuer Rekonstruktion nie wieder an ein vermeintliches Original oder ein historisch verzerrtes Bild von Zeitgeist heranreichen.

Einschreibung im urbanen Raum

Sieht man sich die Website des aus- gewählten Beispiels an, stößt man auf eine ganze Reihe symbolischer Einschreibungen in Berlin. Diese modernen Palimpseste gehen auf eine antike Kulturtechnik der Wiederbeschreibung zurück. Vormals auf ausgewaschenen oder abgekratzten Manuskriptseiten ausgeübt, hat diese reproduktive Technik im Laufe der kontinuierlichen Anwendung selbst eine De- und Neukontextualisierung erfahren und sich in den öffentlichen Raum verschoben. Autoren treten bei diesen modernen Beispielen in den Hintergrund, vielfach wird einfach zitiert. Auch sind die Einschreibungen vielerorts nicht lange erhalten, da sie entweder entfernt oder aber von den Nächsten verdeckt werden.

Dann ist da der selbst- und kontextreferentielle Inhalt des Satzes: ein Palimpsest im öffentlichen Raum, in dem es potentiell jederzeit „radiert” werden kann, reflektiert seine eigene „gezeichnete” Machart. Inhaltlich eine Unumkehrbarkeit postulierend, ist die Einschreibung in ihrer Form, ihrer kontextuellen Gestalt und als Produkt eines Lebens doch so auflösbar und dabei in einer Differenz wieder rekonstruierbar in einem neuen raumzeitlichen Kontext. In Kombination mit noch einem anderen Sachverhalt führt die Beobachtung dieses urbanen Intertextes zu einer interessanten Vermutung.

Im wissenschaftlichen Kontext der Medizin bezeichnet der Terminus Palimpsest das Phänomen des Filmrisses, also der Erinnerungslücke nach alkoholischem Rauschzustand. In beiden Verwendungskontexten konstituiert sich demnach ein festes Moment in der Bedeutung dieses Wortes: das Löschen. Es ist diese Beschreibung einer Amnesie, die in der angeführten Darlegung zu der Frage führt, wie es um das Vergessen beim kulturellen Gedächtnis steht. Wenn kulturelle Gedächtnisse durch gemeinsame Einschreibungen und damit auch Palimpseste konstruiert bzw. erhalten oder modifiziert werden, diese Einschreibungen selbst – zumindest in ihrer kontextgebundenen Form – aber vergänglich sind, besteht dann die Möglichkeit der kulturellen Amnesie?

Ein Exkurs in die Kulturwissenschaften

Folgt man den Ausführungen KARL H.HÖRNINGS und JULIA REUTERS, ist Kultur als ein dynamischer Prozess zu begreifen. Der praxis-theoretische Ansatz der Cultural Studies lässt das noch von GEERTZ postulierte, symbolisch-abstrakte selbstgesponnene Bedeutungsnetz hinter sich und untersucht den Begriff jenseits normativer Dispositionen in seiner pragmatischen Dimension. Die „Doing Culture” manifestiert sich abseits einer theoretischen Kompetenz in einer alltäglichen Performanz, aufrecht erhalten von einem Kultur schaffenden Menschen. Führt man sich hier vor Augen, dass das „Kulturwesen” Mensch nicht nur kulturelle Nachlässe verwaltet und modifiziert, sondern auch immer noch neue generiert, dann stellt sich einem die Frage nach der Verfassung des kulturellen Gedächtnisses. Trotz inkorporierter und externer technischer Speichermedien und gerade im Angesicht einer überaus schnelllebigen, globalisierten Populärkultur, stößt der Mensch an die Grenzen der Memoration.

Allerdings: im Gegensatz zur konkreten Form einer einzelnen kulturellen Einschreibung und Konstruktion, die im Grunde immer von Individuen abhängig ist, lebt die Kultur über beide weit hinaus. Sie mag sich in einer Vielzahl solcher Einzelakte begründen, ist aber als kollektives Orientierungsprogramm schließlich über sie erhaben. Nichtsdestotrotz lässt sich bereits jetzt beobachten, wie der Zugriff auf Traditionen und die gemeinschaftliche Ko-Memoration in Kulturräumen gerade in säkularisierten Gesellschaften wie der unseren immer selektiver werden. Soziale Dispositionen erfahren mit dem Prozess der Individualisierung und der Erschaffung eines zunächst klassenlosen Raumes namens Internet eine viel größere Dynamik. Galt früher als Maxime eine schöngeistige Hochkultur, ein ererbtes Repertoire ehemals führender Gesellschaftsschichten, dessen sich dann die Bildungsbürger-Schicht annahm und welches noch Horkheimer und Adorno gegen die „verdummende Kulturindustrie” ermahnend abzugrenzen suchten, dominiert heute die massenmediale Transformations-Maschine Pop.

Subversiv und hungrig, dekontextualisierend und reproduzierend, bedient sich die Popkultur wo sie nur kann. Angeheizt von der Werbe-, der Musik-, der Literatur-, der Kunst-, der Film- und der Modeindustrie und beschleunigt im delokalisierten Ort des Internet, vermengen sich in ihr die Narrative, Texte und Traditionen aus unterschiedlichen Kulturgebilden. Dabei werden nicht nur Bestandteile weltweiter Leit- und Subkulturen transformiert, sondern auch Errungenschaften der Popkultur selbst. Es wird geremixt.

Kultur als Selbstbedienungsladen

Wo der eine nun eine erfolgsversprechende Marktlücke wittert, bringen andere Kritik an. So kommt auch JONAS WOLF in seiner Bachelorarbeit „Die Kunst der Kontemplation – Wider unser Kommunikation” von 2011 in einem Kapitel auf den Remix zu sprechen. Aufbauend auf der eingehenden Analyse einer überkommunizierenden Gesellschaft und der FLUSSERSCHEN Unterscheidung zweier Grundpfeiler der Kommunikation Dialog und Diskurs, attestiert er unserer Leistungsgesellschaft eine diskursive Tendenz, die nach der Gliederung MICHEL MANFÉS einen Informationsmangel auf breiter Ebene bedeute. Dialoge kämen, einem zeitlichen- und einem Leistungsdiktat geschuldet, nicht mehr zu Stande und die Kommunikation offenbare ihre problematische Komplexität. JEAN BAUDRILLARD zitierend folgt er so „Die Zeit der Re-Produktion […] ist die Zeit des Codes, der Streuung und der totalen Austauschbarkeit der Elemente” (Baudrillard, 1978, S. 21 in Wolf, 2011, S. 33 f.). Lässt dieses Zitat nicht schon genug Rückschlüsse auf die Beschaffenheit unseres kulturellen Repertoires und unseren diesbezüglichen Umgang damit zu, lässt sich noch eine weitere Bemerkung rezitieren, diesmal von WILLIAM GIBSON, der polemisch bemerkt „Today’s audience isn’t listening at all – it’s participating. Indeed, audience is an antique a term as record, the one archaically passive, the other archaically physical. The record, not the remix, is the anormaly today” (Gibson, 2005, in Wolf, 2011, S. 34). Es ist diese reproduzierende Partizipation beziehungsweise eingekaufte Reproduktion der breiten Masse, die die von uns gelebte Popkultur so sehr auszeichnet – die einer symbolischen Kompetenz entbundene Performativität. Dabei ist der Remix keinesfalls ein rein musikalisches Phänomen. Er ist viel mehr das Transformations-Instrument, die Möglichkeit und das Diktat der Bricolage. Der spätmoderne, kulturschaffende und in einer Differenz immer reproduzierende Mensch ist ein Bastler und die „Doing Culture” ein Selbstläufer.

Amnesie und Umschreibung

Es bleiben nun zwei offene Fragen noch zu beantworten: Ist erstens ein kollektives Orientierungsprogramm revidierbar und besteht zweitens die Möglichkeit der kulturellen Amnesie? Ich denke ja und behaupte weiterhin, dass diese Prozesse sich gegenseitig bedingen. Natürlich können kulturell tradierte Verhaltensmuster, Kulturtechniken und über Generationen hinweg kommuniziertes Wissen nicht einfach wegradiert werden, aber sie können zerstaltet werden. In einer hochgradig dynamischen Progression, getrieben von milliardenschweren Kulturindustrien und einem von ihr inspirierten individualistischem Heer, werden die zahlreichen Facetten und Ausprägungen von Kulturen in kommunikativer Aneignung zu Collagen mit neuer Bedeutungsaufladung. Es wird nun in sofern nicht vergessen, als dass einfach überschrieben wird oder, um es in Anlehnung an die medizinische Definition des Palimpsestes auszudrücken: der hochkommunikative, translokale Vollrausch, verschleiert uns das kulturelle Gedächtnis.

GUENTHER LAUSE ist ein Kind seiner Zeit. In die Welt geworfen, versucht er sich an Orientierung und haust gedanklich in seiner großstädtischen Sternwarte. Spiegel einer Persönlichkeit und programmiertes Kultursubjekt, ermüdet er sich und andere zunehmend – über Betrachtungen bedeutungsvoller Schrotthaufen. GUENTHER LAUSE lebt.

Quellenverweise:

http://www.notesofberlin.com/search?updated-max=2012-01-18T09:00:00%2B01:00&max-results=5

Baudrillard, Jean: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin, 1978

Gibson, William: Wired Magazine, July 2005

Hörning, Karl H. & Reuter, Julia: Doing Culture – Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld, 2004

Wolf, Jonas: Die Kunst der Kommunikation – Wider unser Kommunikation, Hamburg, 2011

 

Gespräche

Das australische Duo CIVIL CIVIC spielt atemberaubende Instrumentalmusik. Über verzerrte Bassläufe und Punkriffs legen die beiden Freunde AARON CUPPLES und BENJAMIN GREEN Melodien, die eingängiger nicht sein könnten. Ihre 2010 erschienene Single „Less Unless“ schlug in der Blogosphäre ein wie eine Bombe. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Band mit Rules ihr Debütalbum. Dieses hat eine ganz eigene Entstehungsgeschichte. Nicht nur, dass es zum Großteil via Email geschrieben wurde, waren es die Fans, die das Mastering und die Pressung mitfinanzierten. Im Gespräch mit CARTOUCHE zeichneten die beiden Freunde die Entstehung ihres Erstlingswerks in allen Einzelheiten nach und berichteten, auf welche Weise sie bei ihrer Arbeit vom Web 2.0 profitieren. 

BEN, AARON, wie habt ihr euer Debütalbum Rules geschrieben? Ihr lebt ja nicht einmal in derselben Stadt. BEN, du wohnst in Barcelona und AARON, du in London.

BEN: Die Distanz stellte kein großes Hindernis dar. Statt zu jammen schickten wir uns Song-Ideen in Form von Audio-Dateien hin und her. Das waren in der Regel fast fertige Songs, zu denen der andere seinen Part hinzufügte, vorausgesetzt das Demo gefiel ihm.

Rules wurde von euren Fans mitfinanziert. Wie kam es dazu?

AARON: Wir wollten unser Album auf Vinyl veröffentlichen, hatten aber nicht das notwendige Geld dafür. Deshalb fragten wir unsere Fans, ob sie nicht Interesse an einem Vinyl-Exemplar von Rules hätten und ob sie bereit wären, drei Monate im voraus dafür zu bezahlen. Den Spendenaufruf posteten wir bei FACEBOOK, das Geld sammelten wir über die Crowdfunding-Plattform INDIEGOGO.

BEN: Die Resonanz war umwerfend! 200 Leute spendeten Geld, was uns die Möglichkeit gab, das Album in einem professionellen Studio mastern zu lassen und die Pressung von 2000 Schallplatten und CDs zu finanzieren.

Und wir habt ihr die Kosten für das Tonstudio und das Artwork gedeckt?

AARON: Das brauchten wir nicht. Wir nahmen das Album in BENS Schlafzimmer auf. Das war im Sommer 2011 während des Festivals PRIMAVERA SOUND in Barcelona. Am Tag spielten wir die Bassparts ein, in der Nacht gingen wir feiern!

BEN: Das Plattencover haben wir ebenfalls selbst entworfen. Rules ist zu 100% made by CIVIL CIVIC.

Warum habt ihr euch dazu entschieden, die Produktion selbst zu stemmen? War es, weil ihr keine Labels mögt? Oder habt einfach keins gefunden?

BEN: Wir haben uns nicht nach einem Label umgeschaut, weil es nicht notwendig war. Schließlich sind wir beide in Tonstudios aufgewachsen und wissen daher, wie man Musik aufnimmt. Warum hätten wir da den Weg über ein Label gehen sollen? Das machte für uns keinen Sinn, zumal es uns nur unnötig Geld gekostet hätte.

AARON: Dennoch wäre es manchmal schön ein Label zu haben, das uns dabei hilft unser Album zu bewerben. Im Gegensatz zu etablierten Labels haben wir weder das Geld noch die notwendigen Kontakte, um eine große Werbe- kampagne anzustoßen. Das ist auch der Grund, warum wir soviel touren: Wir müssen unser Album promoten.

Das könnte auch eine PR-Agenur übernehmen. Sind Labels überhaupt noch notwendig?

AARON: Das denke ich schon, vor allem für Bands, die weder über das nötige Kapital noch über die Fähigkeiten verfügen, die man braucht, um ein Album in Eigenregie produzieren zu können.

Wäre es ohne die Möglichkeiten des Web 2.0 so einfach gewesen, 200 Leute für die Vorfinanzierung zusammen zu bekommen?

BEN: Das wäre bestimmt irgendwie gegangen, es wäre aber der reinste Albtraum gewesen! Früher war für eine derartige Aktion ein gewisser Bekanntheitsgrad oder eine umfangreiche Mailing-List notwendig.

An welcher Stelle habt ihr noch vom Web 2.0 profitiert?

BEN: Bei der Produktion unserer Musikvideos. Die Videos, die wir für CIVIL CIVIC gemacht haben, bestehen zum Großteil aus Material, das wir bei YOUTUBE gerippt und anschließend neu zusammengefügt haben. Der gelungenste Clip ist das Video zu „Run Overdrive“. AARON hat da wirklich ganze Arbeit geleistet.

Ihr nutzt also die stetig wachsenden Archive des Netzes. Wie sieht es mit Blogs aus?

AARON: Blogs haben uns sehr geholfen! Einen Großteil unserer Hörerschaft haben wie über die vielen großen und kleinen Musikblogs erreicht, die positive Kritiken über uns geschrieben haben.

BEN: Wir hatten großes Glück! Es gibt eine Menge Bands, die ihre Musik an hunderte Blogs schicken, ohne dass diese über sie schreiben. Unsere Single Less Unless hingegen wurde kurz nach ihrer Veröffentlichung von einigen Blogs aufgegriffen und weiterempfohlen. Am Ende schrieben hunderte von Blogs über unsere Musik.

AARON: Musikblogs haben über die letzten Jahre extrem an Bedeutung gewonnen. Viele Musikmagazine schreiben von ihnen ab, Labels nutzen sie für die Talentsuche. Alles wurde auf den Kopf gestellt.

Ihr scheint von den neuen Verhältnissen auf allen Ebenen zu profitieren.

AARON: Es sieht ganz so aus. Manche Leute sagen, die Welt sei in den letzten zehn Jahren sehr komplex geworden. Das mag stimmen. Auf der anderen Seite ist die Welt aber auch ein großes Stück zusammengewachsen. Viele Barrieren, die vorher unüberwindbar schienen, sind verschwunden. Man muss nicht mal mehr in derselben Stadt wohnen, um ein Album zu schreiben. Das ist eine tolle Sache!

FOTO: CIVIL CIVIC 

Links: Homepage / Blog

 

Editorial

Liebe Leser_innen,

in der Popkultur dreht sich nach wie vor alles um die Vergangenheit. Gerade erst erschienen mit WES ANDERSONS Film Moonrise Kingdom und JAMES FRANCOS Roman Paolo Alto zwei weitere Werke, die sich mit der Kindheit und der Jugend auseinandersetzen. Ähnlich sieht es in der Mode und Musik aus, wo der Einsatz von Pastiche nicht mehr wegzudenken ist. Unermüdlich zitieren Designer_innen wie Musiker_innen aus vergangenen Stildekaden. Da ein Ende dieses Trends nicht abzusehen ist, sollte sich die Popkritik einmal mehr darauf konzentrieren, die einzelnen popkulturellen Produkte zu dechiffrieren und zu kontextualisieren.

Schließlich fragen wir heute viel zu selten, wo ein bestimmtes Zeichen herkommt. Alles wird vollkommen selbstverständlich kopiert und in neue Sinnzusammenhänge gesetzt. Genau um diese Problematik dreht sich der Text “Kollektives Vergessen” unseres Autors GUENTHER LAUSE. In ihm analysiert LAUSE was eintritt, wenn das Zitat von seinem Ursprung getrennt wird: Eine kulturelle Amnesie. Zum Glück gibt es verantwortungsbewusste Blogger wie NATHAN COWEN, der auf seinem Pictureblog HAW-LIN die Bildquellen angibt oder die Plattform TUMBLR, bei der man die Bilder zu ihrer Quelle zurückverfolgen kann. Sie sorgen dafür, dass nicht alle Spuren verwischen im endlosen Datenstrom des World Wide Web.

Der Verlust des Authentischen ist aber nicht das einzige Problem unserer digitalen Gesellschaft. Ein weiteres lässt sich formulieren: Durch die rapide Geschwindigkeit des Netzes hat die Berichterstattung über Popkultur an Tiefe verloren. Beim stetigen Weiterverlinken von Songs und Bildern ist vielen Blogs der Blick für die Personen hinter den einzelnen Werken abhanden gekommen. Wer kennt die Mitglieder seiner Lieblingsbands heute noch beim Namen oder weiß, welches Ziel ein Designer mit seiner Arbeit verfolgt? Ist das überhaupt wichtig? Wir finden ja! Aus diesem Grund finden sich in dieser Ausgabe ein Portrait des Modefotografen LENNART ETSIWAH sowie längere Gespräche mit der One-Man-Show CHRISTOPHER KLINE aka HUSH HUSH und dem Labelchef von ARBUTUS RECORDS, SEBASTIAN COWAN, in denen es um ihre Arbeit, ihr Leben und ihre künstlerische Vision geht.

Den Ansatz hinter die Kulissen zu schauen und sich Zeit zu nehmen für sein Gegenüber, hat ebenfalls die niederländische Fotografin QING QING MAO, die für ihre Buchserie The Leaf City Städte portraitieren will, indem sie mit den Leuten redet, die in ihnen leben und arbeiten. Für uns hat sie eine Auswahl an Fotos zusammengestellt, die sie im Mai für ihr Berlinbuch aufgenommen hat.

In diesem Sinne: Lasst uns für einen kurzen Moment innehalten.

Viel Spaß beim Lesen!

Die Redaktion von CARTOUCHE.

//Empfehlung

Im Zuge der digitalen Revolution haben sich die Standards für Musikalben deutlich verändert. Galt es lange Zeit als Tugend, ein Album erst dann zu veröffentlichen, wenn es wirklich fertig war, erscheinen heute immer mehr Alben, deren Qualität sich kaum von der eines Demotapes unterscheidet. Abgesehen davon, dass Ideen nicht ausformuliert werden, ist der Sound schlecht abgemischt, die Instrumente klingen schief.

Als Lo-Fi oder Low-Fidelity wird eine solche Ästhetik bezeichnet. Seit Anbruch des digitalen Zeitalters ist Lo-Fi-Musik zu einem Massenphänomen geworden. Viele KünstlerInnen versuchen erst gar nicht, das nötige Kleingeld für ein großes Aufnahmestudio zusammenzukratzen, sondern nehmen ihre Songs gleich in den eigenen vier Wänden am Computer oder mit einem Kassettenrekorder auf. Digitaler Kommunikationswege sei dank, können sie ihre selbstgemachten Aufnahmen anschließend problemlos verbreiten.

Die U.S.-amerikanische Künstlerin MEGHAN REMY aka U.S. GIRLS kann dieser stetig wachsenden Do-it-Yourself-Fraktion zugerechnet werden. Ihre ersten beiden Alben waren noise-verliebte Schlafzimmer-Produktionen, die klangen, als seien sie lediglich mithilfe eines Diktiergeräts eingespielt worden. Im November vergangenen Jahres legte die Musikerin nach. Auf dem niederländischen Label K-RAA-K veröffentlichte sie ihren dritten selbstproduzierten Longplayer U.S. Girls on KRAAK.

Dort bleibt sich die Musikerin nicht nur treu was die Produktion betrifft, auch in Puncto Songwriting steht U.S. Girls on KRAAK in der Tradition seiner Vorgänger. Wie gehabt verzichtet REMY in den meisten ihrer neuen Stücke auf klassische Lied-Elemente wie Intro, Strophe und Refrain. Stattdessen finden sich dort skizzenhafte Klangkollagen, die sich, wenn sie nicht von einer schnarrenden Rhythmus-Pattern zusammengehalten werden, in dissonantem Geklimper und ekstatischem Noise verlieren.

Ein ähnliches Non-Songwriting zelebrierte die Künstlerin ANNIE SACHS aka TICKLEY FEATHER auf ihrem 2009 bei PAW TRACKS erschienenen Album Hors D’Oeuvres. Genau wie REMY widersetzte sich SACHS dem Diktum Verse-Chorus-Verse zugunsten freierer Formen: Ein Beat, zwei Akkorde und eine Melodie mussten reichen, manchmal sogar ganze fünf Minuten lang. Das kann nerven. SACHS hingegen schaffte es zu begeistern und in einigen Songs sogar zum Punkt zu kommen. Man erinnere sich nur an „Trashy Boys“ mit seiner hymnenhaften Gesangsmelodie.

Auch auf U.S. GIRLS on KRAAK gibt es zwei Stücke, die äußerst straight und weniger kakophon sind als der Rest. Und diese überzeugen auf Anhieb: Da wäre zum einen das Lied „Island Song“, das eine eingängige Melodie besitzt, die zunächst von einem Klavier gespielt und wenig später von REMYS kraftvoller Stimme aufgegriffen und variiert wird. Ungewöhnlich harmonieverliebt klingt auch die wabernde Klangfläche, deren Noise-Level auf ein angenehmes Maß reduziert ist. Der straighte Beat lädt zum Tanzen ein. Ähnlich sieht es bei dem Cover des 90er-R’n’B-Hits „The Boy Is Mine“ aus, dem die Musikerin Mittels Entschleunigung eine imposante Deepness und Epik verpasst hat.

Die beiden Lieder deuten an, wo die Reise bei U.S. GIRLS hingehen könnte. So kann REMY, wenn sie es will, Popsongs schreiben, die von gleicher umwerfender Qualität sind wie die Lieder einer CLAIRE BOUCHER alias GRIMES. Das hat offenbar auch das Label FATCAT erkannt, das die Musikerin Ende 2011 unter Vertrag nahm. Man darf gespannt sein, ob dort unter professioneller Anleitung weitere Stücke à la „Island Song“ entstehen. Zu wünschen wäre es auf jeden Fall.

Links: Bandcamp / MyspaceKraak

(Foto: FAT CAT)



//Polemik

In seinem Text „Alles Populäre ist falsch“, der am 6. August in der TAZ erschien, rechnet der Berliner DJ STEFAN GOLDMANN mit der digitalen Revolution ab. Durch die nahezu kostenlose Produktion habe sich ein Vertriebsmodell entwickelt, dass so „ineffizient“ sei, wie keines zuvor. Der Grund: Gegen das Überangebot an Musik habe die menschliche Aufmerksamkeit keine Chance. Da die mentale „Regalfläche“ knapp sei, könne man sich lediglich durch einen Bruchteil der im Netz kursierenden Musik arbeiten. Während die Majors davon profitierten, dass man sich in der Not auf einige Superstars konzentriert, versinke das Mittelfeld im „Rauschen des Überangebots“. Mit Mittelfeld meint GOLDMANN die Indies, die angesichts des Konkurrenzdrucks und des geringen Werbebudgets nicht ausreichend auf ihre Musik aufmerksam machen könnten. Die Folge: Sie müssten dicht machen, da sie kein Geld mehr verdienen.


Eine weitere negative Folge sei die zunehmende Entprofessionalisierung der Musik. Da sich viele MusikerInnen wegen ausbleibender Einnahmen aus den Plattenverkäufen kaum noch professionelle Hilfe für den Ton, die Produktion und die Gestaltung leisten könnten, müssten sie sich selbst um diese Aufgaben kümmern, weswegen nicht mehr genug Zeit für die Musik bliebe. Die Qualität der Musik würde dadurch in Mitleidenschaft gezogen.

Das Web 2.0 als Chance

GOLDMANNS Argumentation hinkt an mehreren Stellen. Sei es, dass er die Filterfunktion von Blogs verkennt oder die Fähigkeit der MusikhörerInnen, mit dem reichen Musikangebot des Web 2.0 zurecht gekommen.

Am Gravierendsten ist jedoch seine Fehleinschätzung der digitalen Revolution. Diese hat viele positive Effekte mit sich gebracht: Da wäre zum einen die Demokratisierung des Musikgeschäfts. Nicht Plattenfirmen und Musikmagazine bestimmen mehr, wer gehört wird und wer nicht, sondern die zahllosen Musikblogs und, was noch viel wichtiger sind, die HörerInnen selbst. Gefällt ihnen ein Album, verlinken sie es auf Facebook und geben den Interpreten Geld, damit diese weitermachen können.

Zum anderen hat das Internet die Partizipation am Musikmarkt deutlich vereinfacht. Digitale Aufnahmeprogramme und  soziale Netzwerke ermöglichen es, Musik nahezu kostenlose zu produzieren und zu vertreiben. Entsprechend scheint die Zahl an Selbstveröffentlichungen seit Beginn des digitalen Zeitalters deutlich gestiegen zu sein. Das Resultat aus dieser Entwicklung ist eine Unabhängigkeit, die den KünstlerInnen des Web 2.0 die Freiheit ermöglicht, die Musik aufzunehmen, die ihnen gefällt. Ob sich das Produkt verkauft oder nicht, ist Nebensache.

Qualität? Ja, bitte!

Die Musikqualität hat ebenfalls nicht nachgelassen. Zumal sowieso fraglich ist, was GOLDMANN unter Qualität versteht: Geht es ihm dabei um den Sound oder um die Musik an sich? Gute Songs werden jedenfalls nach wie vor geschrieben. Und das nicht zu knapp. Zudem gilt noch immer: Ist das Produkt interessant, lässt es sich verkaufen. Daran hat sich auch im digitalen Zeitalter nichts geändert. Im Gegenteil scheint die Qualität dank des „Überangebots“ endlich wieder das wichtigste Kriterium zum Erfolg zu sein. Genau darauf sollte das Augenmerk gelegt werden.

Links: Stefan Goldmann – „Musikmarkt im Netz: Alles Populäre ist falsch“

//Gespräche

Braucht es noch Labels? „Nein“, antwortet Michael Maramag alias Blackbird Blackbird. Im Gespräch mit cartouche erteilt der US-amerikanische Chillwave-Musiker und Label-Chef nicht nur autoritären Labelstrukturen eine Absage, sondern proklamiert zugleich einen tiefgreifenden Wandel in der Musikindustrie und die Renaissance des DIY. Während User, Fans und Musiker das Business nach ihren Vorstellungen gestalteten, könnten Bands sich dank der technischen Möglichkeiten der digitalen Revolution problemlos selbst managen. Alles nur schnöder Verbalradikalismus? Was ist dran an Michael Maramag? 


Michael, inwiefern hat die Digitale Revolution die Musikindustrie verändert?

Michael: Dank des Internets ist die Musikindustrie um einiges demokratischer geworden. Nicht mehr eine kleine Gruppe von Trendsettern bestimmt, was möglich ist und was nicht, sondern Nutzer, Fans und Künstler. Durch ihre aktive Partizipation definieren sie die Musiklandschaft nach ihren Wünschen.

Inwiefern?

Künstler holen sich die Kontrolle über ihre Musik zurück. Niemand will mehr autoritär durchorganisierte Plattenlabels. Sie werden mehr und mehr durch demokratische Künstlerkollektive ersetzt. Das Label UFOLK Records zum Beispiel, das ich mit meinem Freund Austin Wood betreibe, hilft Künstlern dabei sich einen Namen zu machen und überlässt ihnen das Recht mit ihren Aufnahmen zu machen, was sie wollen. Unser Label wird durch die Künstler betrieben und nicht durch irgendwelche geldhunrigen CEOs.

Du hast deine ersten Songs also nicht auf einem Label veröffentlicht?

Nein. Ich brachte meine ersten Songs auf Bandcamp und Myspace raus, kam so ins Gespräch und war wenig später auf Pitchfork. Danach ging alles seinen Weg. Ich habe auch ein paar gute Kontakte zu Blogs, die über meine Musik schreiben.

Du magst also Musikblogs? Auch solche, die nur Rapidshare-Links posten?

Musikblogs sind eine gute Sache, auch wenn die vielen Torrents die Google-Suchergebnisse für mein Album ruinieren. Anstatt auf meine Seite zu kommen, wird man nur auf Download-Foren weitergeleitet. Das nervt! Trotzdem habe ich kein Problem damit, das die Leute meine Musik kostenlos und schnell bekommen können. Ganz im Gegenteil: Ich finde es sogar sehr nützlich.

Wieso?

Es ist schlicht und einfach eine gute Möglichkeit, die eigene Musik zu verbreiten. Du kannst viele neue Hörer gewinnen, wenn du deine Musik verschenkst. Der Wert bemisst sich also nicht an dem verdienten Geld, sondern an den gewonnen Fans.

Wenn es dir nicht ums Geld geht, stellt sich die Frage, wovon du eigentlich lebst?

Ich lebe von meiner Musik, schließlich ist es immernoch möglich Geld damit zu verdienen!

Was ist dafür notwendig?

Du musst dich in verschiedenen Bereichen des Business auskennen. Das Internet kann hierfür ein großartiger Lehrer sein: Bandcamp kann dabei helfen, Statistiken zu verstehen, Tunecore eignet sich hervorragend für den Eigenvertrieb und Soundcloud bietet die Möglichkeit, sich mit anderen Musikern zu vernetzen und Musik mit anderen Leuten zu teilen. Früher übernahmen Manager diese Jobs, heute kann man das selber machen. Großartig, oder?

Das Internet hat also eine entscheidende Rolle gespielt…

Richtig! Der Erfolg vieler Künstler resultierte aus ihrem Verständnis für die Funktionsweisen des Internets. Ein Bewusstsein für die Bedeutung der eigenen Fanbase, ist ein weiterer wichtiger Faktor in der revolutionierten und digitalisierten Musikindustrie unserer Tage.

Links: Blackbird Blackbird

//Gespräche

Im letzten Teil unserer //Gespräche-Reihe unterhielten wir uns mit Chillwave-Ikone Chaz Bundick (Toro y Moi) über die neuen Vermarktungs-Strategien, die sich dank der digitalen Revolution im Musikgeschäft bieten. Sein Geheimrezept lautet: Verschenke deine Musik! Auch der Mike Diaz a.k.a. Millionyoung verbreitete seine Musik kostenlos im Netz. Für den Chillwaver aus Florida steht fest, dass für zeitgenössische Musiker zwei weitere Dinge wichtig sind: Eine treue Fanbase und das Wohlwollen der Blogosphäre.


Mike, du hast deine erste EP Be So True kostenlos im Netz angeboten. Damit bist du nicht der Einzige: Immer mehr Künstler verschenken ihre Musik. Wie erklärst du dir diesen Trend?

Mike: Es macht einfach Sinn! Dank des technischen Fortschritts haben sich die Produktionskosten für Musik so sehr verringert, dass du fast kein Geld mehr aufwenden musst, um eine Platte zu produzieren. Mein Debütalbum und meine EPs habe ich in meinem Schlafzimmer am Laptop aufgenommen. Da ich also so gut wie keine Ausgaben bei der Produktion hatte, war es kein Problem, die Musik zu verschenken.

Plattenverkäufe sind ja sowieso nur noch für größere Bands eine wirkliche Existenzgrundlage…

Das stimmt. Bands wie Radiohead können auf ihre treuen Anhänger zählen, die sie finanziell unterstützen. Leute zu finden, die deine Platten kaufen, ist im Zeitalter illegaler Downloads äußerst schwierig geworden. Trotzdem gibt es sie. Ich persönlich kann mich auf meine Fans verlassen: Sie kaufen meine Platten und kommen zu meinen Konzerten. Ihre Unterstützung reicht aus, damit ich weiter machen kann.

Wie hältst du den Kontakt zu deinen Fans?

Entweder hänge ich mit ihnen auf meinen Konzerten ab oder auf Facebook. Es ist mir sehr wichtig, eine starke Verbindung zu den Leuten zu haben, die meine Musik mögen. Hier war das Internet mit seinen unzähligen Blogs und Plattformen sehr hilfreich. Trotzdem habe ich mich nie danach gefühlt, zu twittern, was es bei mir zum Frühstück gab.

Das Internet hat also die Kommunikation vereinfacht. Wie sieht es mit der Verbreitung von Musik aus?

Die ist auch viel einfacher geworden. Nehmen wir die zum Beispiel die Mundpropaganda, die durch das Netz wesentlich globaler geworden ist. Viele Bands müssen heute nur noch ihre Musik an Blogs weiterreichen und dabei zuschauen, wie ihre Hörerschaft von ganz alleine wächst. Die virale Verbreitung von Musik ist ein absolutes Novum.

Du magst also Musikblogs?

Nicht unbedingt. Sagen wir es so: Ich trete ihnen mit gemischten Gefühlen entgegen. Auf der einen Seite finde ich es toll, dass Musiknerds ihre Leidenschaft mit anderen Personen auf ihren Blogs teilen. Wenn die Leser dieser Blogs die dort heruntergeladene Musik auch kaufen würden, wäre das echt super. Leider sieht die Realität meistens anders aus.

Diesem Manko zum Trotz: Würdest du sagen, dass du ohne das Internets mit seinen Vorzügen einen ähnlichen Erfolg gehabt hättest?

Ich denke schon. Aber es hätte sicher länger gedauert.

Links: millionyoung

(Foto: Andy J. Scott)

//Gespräche

Die digitale Revolution hat einen neuen Typus Künstler hervorgebracht: Er verschenkt seine Musik und nutzt erfolgreich die neuen Möglichkeit der Selfmade-Produktion und des Eigenvertriebs. Einer von ihnen ist der Chillwaver Chaz Bundick alias Toro y Moi, der für sein Debütalbum „Causers of this“ dies- und jenseits des Atlantiks viel gefeiert wurde. Bundick nahm seine ersten EPs und Alben in Eigenregie am Laptop auf und verbreitete sie anschließend über Blogs kostenlos im Internet. Wie er im Gespräch mit cartouche. erklärt, gehöre das inzwischen zum Pflichtprogramm, wolle man es heute noch zu etwas bringen.

Chaz, die digitale Revolution hat das Musikgeschäft gründlich auf den Kopf gestellt. Plattenfirmen und Musikmagazine scheinen angesichts der neuen Möglichkeiten des Eigenvertriebs und der kostenlosen PR-Arbeit der unzähligen Fanblogs überflüssig geworden zu sein. Inwiefern hat dir das Internet bei deiner Arbeit geholfen?

Chaz Bundick: Ich habe das Internet genutzt, um meine Musik kostenlos zu verbreiten. Hätte ich diese Möglichkeit nicht gehabt, wäre ich längst nicht so erfolgreich.

Moment mal, du hast deine Musik kostenlos ins Netz gestellt?

Selbstverständlich! Kennst du noch Jemanden, der Musik legal erwirbt? Ich nicht. Warum die eigenen Aufnahmen also nicht gleich verschenken? Nicht einmal Musiker geben noch Geld für Musik aus. Künstler, die das Gegenteil behaupten, lügen oder wissen ganz einfach nicht, wie man Mediafire und Rapidshare benutzt.

Du hast also nichts gegen Musikblogs, die einfach nur die Rapidshare-Links von geleakten Alben verbreiten?

Ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Das sind meine Lieblingsblogs! Einen Großteil der Musik, die ich besitze, habe ich illegal aus dem Netz geladen. Genauso habe ich kein Problem damit, dass meine Aufnahmen im Netz kursieren.

Kannst du trotzdem von deiner Musik leben?

Klar! Ich verdiene mein Geld mit Konzerten.

Du hast deine Musik anfangs also kostenlos und ohne die Hilfe eines Labels vertrieben. Wo hast du noch auf klassische Strukturen verzichtet?

Ich habe Tonstudios gemieden. Meine Alben und EPs habe ich bei mir zuhause in South Carolina auf meinem Laptop produziert. Hierfür nutzte ich die Software Fruity Loops und ein Kassettenaufnahmegerät.

Du schlüpfst also in die Rolle des Produzenten. Welche Talente muss ein Musiker heutzutage noch besitzen?

Wenn du es heute zu was bringen willst, musst du dich auch mit Management auskennen. Da das Internet die Kommunikation erheblich erleichtert hat, ist das gar nicht mehr so schwer. Eins ist klar: Es reicht längst nicht mehr aus, einfach nur gute Musik zu machen.

Würdest du sagen, dass das Musikgeschäft durch das Internet demokratischer und partizipativer geworden ist?

Es ist auf jeden fall einfacher geworden, sein eigenes Ding zu machen. Trotzdem kann man bei Fülle an Musik schnell den Überblick verlieren. Ich persönlich finde kaum noch die Zeit, mich richtig auf ein Album einzulassen.

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(Foto: BRYAN BUSH)