Empfehlung

Boybands sind tot, es lebe die Boyband!

BACKSTREET BOYS und NEW KIDS ON THE BLOCK sind wieder da. Im Doppelpack ziehen sie gerade durch nicht ganz ausverkaufte Hallen. Um der alten Zeiten und der Altersvorsorge willen. Die Tonlage der entzückten Schreie vor der Bühne ist um ein Oktave gefallen, es blitzen nun Lesebrillen statt Zahnspangen im gleißenden Gegenlicht, vielleicht spielen sie bald mit den Flippers und Status Quo in Heuschobern. Der Musikdozent UDO DAHMEN erklärt in der TAZ, dass Boybands mit dem ersten Freund der Teeniemädchen durch anspruchsvollere Musik abgelöst werden. Besonders wenn der Freund Hip Hop hört. Das mag in den Zeiten von Eurodance gegolten haben, die derzeit erfolgreichste Boyband der Welt jedoch kommt aus Südkorea und hat mit Hiphop angefangen.

Sie heißt BIG BANG. Der Sound mäandert zwischen Mainstream amerikanischer Prägung und triefenden Schnulzen, vorgetragen von verwegen bemützten Kids. Aber irgendetwas ist anders. Auf das Narrativ des sozialen Aufstiegs oder im Sandkasten geschlossener Männerfreundschaften verzichten BIG BANG, ihr Leitmotiv heißt Entertainment. Die koreanischen Boys erfuhren einen Drill wie sonst nur die Leichtathleten im sozialistischen Norden. Der Betreiber des Labels YG las die Jungs von der Straße auf, und das heißt in Südkorea natürlich etwas anderes als in East Harlem: Der Vorstadtidylle entrissen, um von nun an für den Ernstfall am offenen Herzen asiatischer Mädchen zu trainieren. Nur einer von ihnen, DAESUNG, ist gecastet. Er ist nicht hübsch, sondern talentiert. Man kann den sechs Jungs, natürlich ein Spektrum an Typen abdeckend, gleichwohl sorgsam bartlos, dabei zusehen, wie sie in den letzten acht Jahren von unbeholfenen Usherepigonen zu Helden der Unterhaltung heranreiften. Harte Arbeit vor der Spiegelwand, das Spiel mit der Kamera in tausendfacher Wiederholung. Wie Sportler sehen sich die Koreaner ihre Fehler auf dem Bildschirm an, einen Stab von Choreographen und Gesangslehrern an der Seite. Das konfrontativ vorgeschobene Kinn hier, die beiläufige Handbewegung dort, alles muss sitzen. Nach der Tanzschule Japanischunterricht, der gesamte Pazifikraum wird bedient, die Songs jeweils neu eingesungen.

Bei all dieser Zurschaustellung asiatischer Akribie kommt der Zuschauer nicht umhin, die Parallele zu Produktfälschungen zu ziehen. Allein, in diesem Fall ist das Ergebnis besser als das Original. TAEYANG etwa, der Posterboy der Gruppe, ist längst so gut wie seine amerikanischen Vorbilder. Das Pingpongspiel der Kulturen befindet sich bereits in vollem Gange, die überspitzte Imitation kommt in Nordamerika und Europa bestens an. Koreanischer Pop wird hier gleichsam von hello-kitty-affinen Mädchen und jungen Hipster-männern aufgegriffen – wenn die reziproke Stilvermengung wie im Falle von BIG BANG gelingt. Auch in der Wahl ihrer Producer können sich BIG BANG gegen die aalglatte Konkurrenz, etwa die chinesisch-koreanische Band EXO, abgrenzen. Während dort die wunderbar losen Grenzen des Geschmacks der asiatischen Turbojugend geradezu unterfordert werden, schickt der brillante Producer DIPLO seine Beats ganz selbstlos zu den Jungs von BIG BANG. Die seien nämlich „richtig gute Rapper“. Das Resultat der Zusammenarbeit wird ein Riesenhit. Obwohl, oder gerade weil der Text geht: „They say bubble, bubble, double, double – combo“.

Was klanglich immer manieriert bleibt, wird in teuren Musikvideos zum spektakulären Ritt durch den Zitatedschungel. Im Video für den Song „Fantastic Baby” räkeln sich wahnwitzige Frisuren zu niedrigbittigen Versatzstücken früher Unterhaltungselektronik und dem anglo-koreanischen Kauderwelsch ihrer Träger. Einer der Boys sieht aus wie der Sänger von HUMAN LEAGUE, mit dem nächsten Wimpernschlag erscheinen plötzlich die Masken von DAFT PUNK. Oder halt, nur so ähnlich. Mehr wie der Visor eines japanischen Rollenspielcharakters. Und DAFT PUNK verehren japanische Animations- filme. Das Prinzip Boyband wird pädagogisch wertvoll von biederen Deutungsmustern befreit und um Superheldentum und Kostümspiel erweitert. Nach dieser fernöstlichen Nadeltherapie auf dreieinhalb Minuten tränen die Augen, das Quecksilber läuft fröhlich über die Tastatur. „Fantastic Baby” schaffte es auf dem Hipsterportal STEREOGUM sogar zum Video der Woche.

Als Projektionsfläche eignen sich die sechs Zweckfreunde indes kaum. Sie sind Gefangene einer irgendwie bigotten Wertegesellschaft. Als der Frontmann GDRAGON in einem Tokioter Club mit Marihuana gesichtet wurde, kam gleich am nächsten Tag die gespielte Empörung in Form einer Pressemitteilung des Labels. Freilich habe der Sänger noch nie Marihuana konsumiert und den feilgebotenen Joint eines Fans für eine harmlose Zigarette gehalten. Rauchen ist in Asien schließlich voll okay. Das gleiche wiederholte GDRAGON, flankiert von seinen mit falschen Tattoos bemalten Bandkollegen, dann in einer Talkshow. Er und die anderen sind schließlich Botschafter des Konsums. Manch ein Song wird schon mal eigens für die Kampagnen der koreanischen Mobil- funkunternehmen geschrieben.

Das erklärt vielleicht, warum YG ENTERTAINMENT mit gerade mal zehn Einzelkünstlern und Teeniebands einen Umsatz von über 50 Millionen Dollar einfährt und kurz vor dem Börsengang steht. An diesem Phänomen, Badboytum als choreographierte Verschwörung, perlen die Argumente der Sozialforschung ab, die Durchdringung des fremden Kulturkreises obliegt eben der koreanischen Forschung. Ihr mangelt es gottlob an Selbstre- flexion. Im Land neben dem Land der aufgehenden Sonne sind sie heilsam geblendet von einer popkulturellen, äh, Kernschmelze.

PAUL SOLBACH betreibt das Berliner Start-up DU.SAGST.ES

Over The Shoulder

Auf den Hund kommen: heißt Männchen machen. Diese Sprache!

So darf man diese schmalen, farbenfrohen Bände vor allem als Angebote lesen, als immer wieder neue Aufforderung, sich der altmodischen Verlockung der Literatur anzuvertrauen, die verspricht, mit ihren Lesern in fremde Sphären zu reisen. 1

Da wird es bunt. Wie viele Bände schmeißen wir uns heute? Lassen wir das. Drogen sind, Bücher sind, Computerspiele sind asozial. Muss es aber nicht heißen, mit Büchern in fremde Sphären reisen? Ganz klassisch, Urlaubslektüre. Zentrale Frage: Was nehme ich mit?

Schreiben übers Lesen. Gelesenes abschreiben. Es ist einfach, sich mit fremden Federn zu schmücken (Guttenberg). Doch was ist ein Zitat?

Negative Autobiographie. 2

Ich erscheine, indem ich verschwinde. Ins positive gewendet:

Was mir fehlt, ist das richtig?, ist das falsch?, das ist der Mut zur KONSEQUENZ DES PATHOS. Lieber täte ich mich jedenfalls als den peinlichsten PathetSepp anschimpfen lassen, als daß ich mich zu einem NieNixFalschSchrei- ber hochloben lassen möcherte, der immer recht schön recht hat. Recht haben und schön auf der richtigen Seite stehen, dass schafft ja noch der letzte rechte Hand- schuh, aber mir ist das so wurscht, das glaubt ihr nicht, weil ich was viel was Schwereres mit der Arbeit herausarbeiten muß, nämlich die Wahrheit von allem. 3

Ja, Wahrheit.

Gibt‘s nicht,

sagen die Väter,

sagen die Väter,

die Wahrheit.

„Doch“, entgegne ich.

„Gibt es, und zwar meine“.

So vergingen die Tage, die Minuten. So las ich und schrieb und fuhr dann fort.

Auch der Mangel an Büchern war ihm oft sehr hinderlich. Er konnte, ja er wollte das nicht benutzen, was Andre über diese oder jene Materie bereits geschrieben hatten und sein Scharfsinn ermattete daher zuweilen bei schon von Andern gemachten Entdeckungen. 4

Warum lese ich eigentlich jetzt zum ersten mal und nur als Experiment formuliert so etwas:

Das ist ein super Album, um Analsex mit der Nachbarin zu haben, nachdem man zwei Tage wach war?

Es kann doch dem Leser, lese ich

weiter,

mehr über die Musik sagen (..) als das unaufhörliche Nerd-Gewichse männlicher Musikjournalisten Ende 30, die an ihren freien Wochenenden allen Ernstes unter ihrem Autorennamen auflegen 5.

Der Text muss die Party sein. 6

Muss er? Kann er?

Das Nachtleben ist sehr wohl auch ein Ort des Unglücks, der Reflexion auf Empfindungen der Alienation, des Ausgeschlossenseins vom Kollektiv und der hier eindeutig unangenehmen Erfahrung von individuellem Anderssein. 7

Produktive Umkehrung: Fangen wir beim Ich an. Es geht um Film (beispielsweise):

Ich glaube… 8 ,

Ich weiß nicht… 9.

Ich sehe was, was Du nicht siehst. Ich kenne mich selbst am besten, also will ich über mich reden. Ich muss ja nicht das Ausweis-Ich sein. Masken-Spiele spielen, zur Feier der Objektivität

Man verkleidet sich nicht nur, um sich zu verbergen. Ebenso verkleidet man sich, um gesehen zu werden. 10

Oder:

Ich setz die Maske auf und schock die Welt Ich geb‘n Fick ob‘s Euch gefällt. 11

Buch des Monats:

Hipster. Eine transatlantische Diskussion, Berlin 2012 12 .

Überall Gutfindekartelle 13. Mission: Kritik + Ablehnung. Oberthema der Rede zur Lage der Nation. Aber hilft das? Orientierungsschwierigkeiten 2012 wie 1986:

Der EINBRUCH DER IDYLLE in das stete Grauen erschien als testenswerte Arbeitshypothese. Dann aber hieß der Optimismus plötzlich Kohl und nicht Dante. Logisch wollte ich jetzt rufen: Sieg den grünen Struppis! Und ich hatte keine rechte Lust mehr, Peinsäcke zu verdreschen. Alles eine Riesenscheiße. Doch was jetzt? Gegen diesen ganzen dicken dummen dreisten Durchblick ist die nächste Strategie der Subversion vielleicht die WendenWende: ätzender Irrtum. 14

Wofür also einstehen? Modelle checken:

im jahre neunzehnhundertsechsundachtzig, am zweiundzwanzigsten september, dem tag des heiligen mauritius, betrat ich die deutsche demokratische republik. ich war, fast auf den monat genau, zwanzig jahre im westen gewesen. ich war sechsundzwanzig jahre alt. ich schleppte die drei schwersten koffer in den raum wo die grenze ist, die genossin sah auf mein papier und sagte: da studieren sie jetzt also bei uns, und ich war da.der zug nach leipzig kam aus binz. die leute im abteil lasen westbücher. ich bins! 15

Die Geschichte aber lief derweil weiter. Zentrale Frage: Was nehme ich mit?

DON‘T CRY WORK! 16

***

PHILIPP GOLL schreibt für taz und HATE.

Quellenverweise:

1 Lena Bopp, „Sirenengesänge aus der Nische“, in: FAZ, 10.11.2011, S. 30.

2 Stefan Ripplinger, „Return to Sender. Über Uwe Nettelbecks Zitatmontagen“, Kultur & Gespenster, Nr. 7 (Herbst 2008), S. 73-97, hier S. 84.

3 Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a.M.1986, S. 330.

4 Karl Friedrich Klischnig über Karl Philipp Moritz (1794). Zitiert nach: Uwe Nettelbeck, Karl Philipp Moritz, Ein Lesebuch, Nördlingen 1986, S. 27.

5 LauraEwert, „Ich komme nicht los von mir

6 Zitiert nach einer mündlichen Auskunft von Stefanie Peter über Claudius Seidl.

7 Rainald Goetz, Klage, Frankfurt a.M. 2008, S. 63.

8 Uwe Nettelbeck, „Die Legende vom Guten alten Westen“, in: Uwe Nettelbeck. Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft. Filmkritik 1963-1968, Hamburg 2011, S. 38.

9 Uwe Nettelbeck, „Jean-Luc Godards Film über den Tod, in: Uwe Nettelbeck. Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft. Filmkritik 1963-1968, Hamburg 2011, S.160.

10 Stefanie Peter, Wozu Masken? Ethnologische Anmerkungen zu einer Faszinationsgeschichte

11 Sido, Die Maske, Maske, Aggro Berlin 2004.

12 Blog des Interview-Magazins, 26.1.2012.

13 Tobias Rapp, „Auch das noch – die Avantgarde verlässt Berlin“, in: taz, 18.9.2008, S.17.

14 Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a.M.1986, S. 331.

15 Ronald M. Schernikau, Die Tage in L., 2. Aufl., Hamburg 2001, S. 13.

16 Cover von Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a.M. 1986.