Portrait

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REGINA WEBER – Eine Modedesignerin mit Fernweh

Eine Küche irgendwo in Neukölln. REGINA WEBER sitzt mit ein paar Freund_innen am Tisch und erklärt den Unterschied zwischen den verschiedenen japanischen Schriftzeichen-Systemen. „Davon gibt es drei, sie kommen jeweils in anderen Bereichen zur Anwendung“, sagt sie lächelnd durch die schwarz umrandete Brille, die sie seit neuestem trägt. Die braunen Haare hat sie wie immer zum Zopf gebunden, am Rand ihres unteren Augenlides hat sie sich mit schwarzem Kajal einen Punkt gesetzt. Sprechen kann sie die Sprache auch schon ganz gut: „千里の道も一歩から。“. Der deutsche Akzent ist fast gar nicht rauszuhören. Warum sich die aufstrebende Mode-Designerin so gut mit dem Japanischen auskennt? Ganz einfach: Ab September wird sie dort ein Jahr studieren.

Es ist genau dieser Durst nach Neuem, diese Reiselust, die REGINA WEBER auszeichnet. Wann immer sie kann, packt sie ihre Koffer, um die Welt zu entdecken. So bereiste sie bereits den Nahen Osten, Zentralasien bis Fernost: China, Neuseeland, Oman, Tibet, Georgien, Nepal, Usbekistan und Sri Lanka. Direkt nach dem Abitur verbringt die Designerin aus Bayern jedoch erst einmal ein Jahr in Shanghai, bevor sie sich in Berlin niederlässt, um hier Chinesisch zu studieren. Nach zwei Semestern wirft sie jedoch hin. Der Grund: Sie will etwas anderes machen, genauer, zu ihrem eigentlichen Plan zurückkehren. „Im Herzen trug ich immer noch den Wunsch etwas mit Mode zu machen“, erzählt sie wenig später am Abend im Zwielicht einer Kerze. REGINA ist schon seit ihrer Jugend klar, dass Mode ihr Metier ist. Es ist der Schaffensprozess, der sie begeistert – ein selbstgemachtes Produkt in den Händen zu halten, etwas zu schaffen, an dem jemand Freude hat. Anfangs zögert sie noch diesen Weg einzuschlagen, doch als sie eines Tages eine Jacke des bulgarischen Designers VLADIMIR KARALEEV im Concept-Store APARTMENT erspäht, ändert sich das schlagartig: „Ich war hin und weg von der abgefahrenen Jacke“, berichtet sie. Vor allem fasziniert sie die Ästhethik des Designers, der seine Kleider nicht anhand einer Skizze fertigt, sondern sie im Orginalstoff an der Puppe drapiert.

Doch nicht nur die Leidenschaft für Mode wird durch das Kleidungsstück neu entfacht. Zugleich fasst sie an diesem Nachmittag den Entschluss für VLADIMIR zu arbeiten. Nach unzähligen Anrufen und Emails, fängt sie schließlich im Herbst 2010 als Assistentin bei dem Designer an. Sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für den Job aussuchen können: Es ist die Zeit vor VLADIMIRS großem Durchbruch. Heute zählt er zu den angesagtesten Berliner Designern. Von Beginn an wurde ihr viel Verantwortung übertragen: Innerhalb von drei Wochen stellt Regina zusammen mit dem Designer eine Modenschau bei der MERCEDES BENZ FASHION WEEK auf die Beine. Und das ohne jegliche Erfahrung. „Aber so arbeitet VLADIMIR nun mal“, sagt REGINA. Sie ist mittendrin, näht die Nächte durch, lernt Tag für Tag die Wichtigsten des Modezirkus kennen und hat so viel Adrenalin wie noch nie im Blut. Das ist genau das, was sie machen will. „Ich konnte das alles gar nicht fassen“, sagt sie mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck.

VLADIMIR ist jedoch erst der Anfang. Außerhalb des Ateliers arbeitet REGINA an ihrer Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule Weißensee, an der sie nun seit drei Semestern Modedesign studiert. Ihr Talent spricht sich rasch herum, SISSI GOETZE heuert sie als Assistentin an. Von körperumhüllender Frauenmode eines VLADIMIR KARALEEV wagt REGINA den Schritt zu formvollendeter, perfekt geschnittenen Männerdesigns, die ihr einen anderen Blick auf die Mode ermöglichen. SISSI ist jedoch weit mehr als nur ihre Chefin. Sie ist eine wichtige Mentorin, als REGINA sich an ihre eigene Kollektion wagt. Die Fragen „Wie sieht meine eigene Mode aus?“ und „In welche Richtung soll es mit meinen eigenen Designs gehen?“ stehen schon länger im Raum und als VLADIMIR, selbst in den Ferien in Italien, REGINA das Studio für drei Wochen zum Arbeiten überlässt, scheint der Zeitpunkt genau richtig. Es ist Hochsommer und das Studio in der Leipziger Straße, aufgeheizt wie eine Sauna, ist nur bei Nacht erträglich zum Arbeiten.

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Die ersten Entwürfe enstehen, doch Regina wird ihren Ansprüchen noch nicht gerecht. Zu ähnlich sind die Designs denen VLADIMIRS. Nach und nach gelingt es ihr jedoch, ihre eigene Note herauszuarbeiten und in zweieinhalb Wochen entstehen fünf Oufits, die ihre persönliche Handschrift tragen. Im Zentrum stehen Strukturen. Ungewohnte Materialien inspirieren sie und so werden Putzlappen, Fahrradschläuche und ein einem Duschvorhang ähnlicher Stoff in die Entwürfe integriert und verfremdet. Von Weitem nimmt der Fahrradschlauch die Charaktereigenschaften von Leder an, erst auf den zweiten Blick erkennt man das eigentliche Material. Ein Kleid sticht aus der Kollektion besonders heraus. Eine selbstgefertigte Wachsstruktur wird auf weißen Stoff appliziert und mit einer transparenten Hülle verschleiert. Es ist ein Kleid, so einzigartig schön, dass es einem die Sprache verschlägt. „Den eigenen Stil zu finden ist eine große Herausforderung“, sagt REGINA ernst. Doch wie immer meistert sie diese Aufgabe bravourös.

Neben all diesen einmalig tollen Erfahrungen hat REGINA auch die Schattenseiten des Modebetriebs kennengelernt: Den Modekritikern mangelt es oftmals an Respekt. Zwar dauert eine Show meist nicht länger als 15 Minuten, doch steckt sehr viel Arbeit dahinter, einige 80-Stunden-Wochen inklusive. „Mode ist kein Spaßding und kann schnell an die Substanz gehen“, sagt REGINA. Genau das wird häufig vergessen, wenn leichtfertig Kollektionen verrissen werden. „In Deutschland gibt es nicht genügend Wertschätzung für Mode“, erklärt sie während sie Wein in ihr Glas schenkt. Ihre Nägel glitzern vom goldenen Lack. Dies ist auch einer der Gründe, warum junge Modedesigner von einem unbezahlten Praktikum ins nächste fliehen, es fehlt die Anerkennung. REGINA weiß wovon sie spricht, sie hat das alles am eigenen Leib erfahren.

Dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen und will auf jeden Fall weitermachen. All die Erfahrungen, ob gut oder schlecht, haben sie geprägt. Wohin die Reise gehen wird, steht noch offen. „Alles ist möglich“, sagt die Designerin. Wahrscheinlich wäre zu viel Gewissheit auch langweilig für einen Menschen wie REGINA. Eins steht aber sicher fest: Die Mode wird es sein. Erstmal heißt die nächste Station jedoch: Japan!

MARIE-THERESE HAUSTEIN bekommt bei „Whiskey Sour“ von MOLLY NILSSON Gänsehaut und überquert ab Ende Februar jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit die Seine.

(Foto: FALKO SAALFELD)

Editorial

Liebe Leser_innen,

Berlin ist eine Stadt, in der vieles gleichzeitig passiert. Das mag reizvoll sein. Genauso schnell kann es aber auch passieren, dass man den Überblick verliert. Das gilt insbesondere für die Kulturlandschaft der Stadt mit all ihren großen und kleinen Nischen. Doch nicht nur Konsument_innen haben mit dem Überangebot zu kämpfen – junge und weniger etablierte Künstler_innen sind davon ebenso betroffen. Viel zu oft gehen sie im Rauschen der Stadt einfach unter, ohne dass jemand Notiz von ihnen genommen hätte. Das ist schade. Schließlich sind gerade sie es, die Bestehendes in Frage stellen und Neues ausprobieren. Eben jenen Berliner_innen wollen wir ab dieser Ausgabe verstärkt unsere Aufmerksamkeit schenken.

Zu den Highlights unserer ersten Berlin-Ausgabe gehört der Musiker DAN BODAN, der in Berlin Zuflucht vor seinem Kunst-Studium gefunden hat. Neben einem einzigartigen Stilbewusstsein verfügt der Kanadier über eine beeindruckende Stimme. Sein Song „Aaron“ ist ein Hit und erschien vor kurzem auf dem New Yorker Label DFA. Wir sind fest davon überzeugt, dass DAN es einmal weit bringen wird und wünschen ihm an dieser Stelle für seine Zukunft alles Gute. Nicht minder vielversprechend ist das Popduo NADINE AND THE PRUSSIANS. Bei NADINE FINSTERBUSCH und BRUNO BAUCH sitzt einfach alles, vom Haarschnitt bis zu den Melodien. Wir haben uns mit den beiden getroffen, um mit ihnen unter anderem über ihre Zukunftspläne zu sprechen. Mit der Experimental-Band MAN MEETS BEAR hingegen führten wir ein unvorbereitetes Interview, in dem es neben den Nachteilen des Berühmtseins auch um ihre Liveshows ging. Diese sind immer ein besonderes Ereignis.

Berlin hat aber nicht nur aufregende neue Musikprojekte zu bieten. Auch in der Modeszene gibt es eine Vielzahl junger Talente. Nachdem wir in der ersten Ausgabe bereits den wundervollen VLADIMIR KARALEEV portraitiert haben, widmen wir uns diesmal der aufstrebenden Designerin REGINA WEBER. REGINA studiert seit einem Jahr Mode an der Kunsthochschule Weißensee und assistiert in ihrer Freizeit der Designerin SISSI GOETZE. Wir freuen uns sehr, euch REGINAS erste selbstentworfene Kollektion präsentieren zu dürfen. Fotografiert hat sie LENNART ETSIWAH, den wir euch im letzten Heft vorgestellt haben. Model gestanden hat ihm PAULINE SCHMIECHEN. PAULINE hat für uns einen Fragebogen über ihre Vorlieben und Interessen in Sachen Mode ausgefüllt.

Ein weiterer Hingucker dieses Hefts ist die Fotostrecke von MATTHIAS HEIDERICH. MATTHIAS hat ein Faible für Gebäude. Wie er uns berichtete, schätzt er an ihnen vor allem ihre Geduld. Im Gegensatz zu lebenden Motiven könne man stundenlang um sie herumschleichen und nach immer neuen Details suchen. Für unsere dritte Ausgabe hat uns MATTHIAS einige Fotos aus seiner Reihe „Stadt der Zukunft“ zur Verfügung gestellt, in der er das Hansaviertel am Tiergarten festgehalten hat.

Bei all der Liebe zu Berlin wollen wir aber das Geschehen außerhalb der Stadt nicht aus dem Blick verlieren. Entsprechend finden sich in diesem Heft Texte, die sich mit Künstler_innen und Phänomenen außerhalb Berlins befassen. Der Berliner DJ WARREN O’NEILL empfiehlt das neue Album des Dancemusic-Produzenten MADTEO, HENNING LAHMANN wiederum hat sich die vier EPs von OLD APPARATUS angehört, einem Kollektiv, dem es durch das Spiel mit Anonymität gelungen ist, Autor_innenschaft zu verwischen. PAUL SOLBACH hingegen geht der Frage auf den Grund, warum sich Black-Metal nicht zum hippen Trend eignet.

Besonders wollen wir uns an dieser Stelle bei den Betreiber_innen des deutsch-portugiesischen DIY-Labels MOUCA, AUGUSTO GÓMEZ LIMA un CHARLOTTE JOHANNA THIESSEN, bedanken, die für uns ein Mixtape zusammengestellt haben. Bands, mit denen sie befreundet sind und die sie sehr schätzen, sind dort vertreten. Herunterladen könnt ihr es euch auf unserer Internetseite www.cartouche-blog.de/mouca.

Es lebe Berlin!

Viel Spaß beim Lesen!

Die Redaktion von CARTOUCHE

Editorial

Liebe LeserInnen,

es ist vollbracht. Nach intensiver Vorbereitung präsentieren wir Euch die erste Ausgabe des CARTOUCHE-Magazins. Das Heft ist eine Erweiterung unseres Blogs www.cartouche-blog.de, den wir vor einem Jahr gegründet haben, um Bands und DesignerInnen eine Plattform zu geben, die in den deutschsprachigen Medien zu kurz kamen oder ganz und gar vergessen wurden.

Ein wichtiger Bestandteil von CARTOUCHE sind Interviews, in denen wir mit unseren HeldInnen darüber sprechen, was sie bewegt. Ein immer wiederkehrendes Thema ist dabei die digitale Revolution. Wie gehen KünstlerInnen mit ihr um? Nutzen sie die Digitalisierung für ihre Zwecke oder fühlen sie sich von ihr bedroht? Chillwave Pionier CHAZ BUNDICK, das Noise-Duo CIVIL CIVIC und OWEN ASHWORTH standen uns auf unserem Blog zu diesen Fragen Rede und Antwort.

Doch warum ein Heft? Hat Papier nicht längst ausgedient? Ja und Nein. Es stimmt, dass sich Papierprodukte in Sachen Aktualität mit Internetblogs nicht messen können. Das müssen sie auch gar nicht, schließlich haben gedruckte Magazine ganz andere Stärken. Da wäre zum einen die Haptik. Gibt es etwas Schöneres, als in der neuesten Ausgabe seines Lieblings-Magazins zu blättern, dabei das Papier zu fühlen und den Geruch von Druckerschwärze in der Nase zu haben? Solche Erlebnisse, bei denen mehrere Sinne gleichzeitig reagieren, können Blogs nicht bieten. Zum anderen widmet man einem Magazin viel mehr Zeit. Angesichts der teilweise umfangreichen Länge unserer Texte war die Entscheidung ein Heft zu machen also pragmatischer Natur. Schließlich wollen wir, dass gelesen wird, worüber wir schreiben.

Denn unsere Texte sind uns wichtig. Unter anderem finden sich in dieser Ausgabe Interviews mit der Newcomer-Band WIDOWSPEAK, die in ihrer Musik den Geist alter Westernfilme beschwören und mit OWEN ASHWORTH, der nicht mehr unter dem Namen CASIOTONE FOR THE PAINFULLY ALONE unterwegs ist und Anfang Mai das erstes Album seines neuen Projekts ADVANCE BASE veröffentlicht. PAUL SOLBACH geht in seinem Text der Frage nach, warum Mainstream-Musik früher besser war. JONATHAN JARZYNA und JJ WEIHL haben für uns die Bands der Stunde aus Berlin auf einer CD versammelt und MARIE-THERESE HAUSTEIN portraitiert den Designer VLADIMIR KARALEEV.

Wir wünschen Euch viel Spaß beim Durchblättern, Lesen und Hören.

Die Redaktion von CARTOUCHE.

Playlist

Die Modeschauen des Berliner Modedesigners VLADIMIR KARALEEV sind berühmt für ihre Scores. Wie keinem anderem gelingt es ihm, den Effekt seiner Entwürfe durch dein Einsatz passender Musik zu verstärken. Für seine letzten Shows stellte VLADIMIR einen sehr langsamen und bassigen Soundtrack zusammen, der hervorragend mit den fließenden Formen seiner Kleider harmonierte. Vertreten waren dort zeitgenössische Künstler_innen wie 18+, FEVER RAY und ANIKA.  Angesichts seines einmaligen Gespürs für Musik lag es nahe, den Modeschöpfer für den zweiten Teil unserer Playlist-Reihe nach seinen derzeitigen Lieblingssongs zu fragen.


18+: »Drawl (Demo)«

Vladimir Karaleev: „Drawl“ von 18+ ist ein großartiger Song, den ich vor allem wegen seiner Bassigkeit und Langsamkeit schätze. Der Stil des Stücks erinnert mich sehr an SALEM, eine Band aus New York, die in ihrer Musik Hip Hop und Techno miteinander verknüpft. Das Musikvideo zu „Drawl“ mag ich ebenfalls. Man sieht eine animierte Frau in knappem Bikini, die ihre Hüften übertrieben lasziv zum Takt der Musik bewegt. Im Hintergrund geht die Sonne unter, von oben rieseln rosa Herzchen ins Bild. Die schmutzigen Zeilen der Sängerin und der lahmende Beat fügen sich perfekt in das absurde Szenario. Einfach toll! „Drawl“ hat mir so gut gefallen, dass ich ihn für meine diesjährige Show auf der Berlin Fashion Week verwendete. Empfohlen wurde mir das Lied von einem guten Freund, dem Berliner DJ PAUL STEIER. PAUL schlägt mir immer wieder Songs für meine Präsentationen vor. Sein Tipp für meine nächste Show ist das englische Duo HYPE WILLIAMS.

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 Wilson Philipps: »Hold on«

Die Band WILSON PHILIPPS feierte kürzlich ein kleines Comeback. In der US-amerikanischen Kitschkomödie Brautalarm des Regisseurs PAUL FEIG spielte die Gruppe ihren Hit „Hold on“. Seitdem ich den Film im Kino gesehen habe, geht mir der Song nicht mehr aus dem Kopf. WILSON PHILIPPS ist eine Band aus den 90ern, die aus den zwei Schwestern CARNIE und WENDY WILSON sowie CHYNNA PHILLIPS besteht und in Europa relativ unbekannt ist. An dem Song gefällt mir zum einen das Zusammenspiel der drei Stimmen, das ihm eine dramatische Note verleiht. Zum anderen das Thema des Textes. Wie die meisten Songs ihres Debütalbums setzt sich „Hold on“ mit der Zeit nach einer Trennung auseinander. Ich mag die Haltung, die immer wieder zum Ausdruck kommt: Die Band erinnert Frauen daran, wie wichtig es ist, in solch schweren Zeiten Stärke zu zeigen und den Partner loszulassen. Am liebsten höre ich das Lied, wenn ich morgens ins Studio fahre.

http://www.dailymotion.com/video/xcu94x_wilson-phillips-hold-on_music

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Mariah Carey: »MTV Unplugged«

Die fiesen Gesangsharmonien MARIAH CAREYS sind die beste Medizin gegen schlechte Laune. Sie zu hören ist ungefähr so, wie sich mit dem Finger in einer offenen Wunde herumzustochern. Danach geht es mir wieder besser. Ich höre Alben selten komplett durch, da es in der Regel mindestens einen Song gibt, der mich nervt. Ganz anders geht es mir mit MARIAH CAREYS Unplugged-Album, das ich in der letzten Zeit rauf und runter gehört habe. Ich mag die Atmosphäre der MTV-Unplugged-Reihe. Die Kommentare zwischen den Songs geben mir das Gefühl, live im Konzertsaal dabei zu sein. Über die Musik hinaus faszniert mich an MARIAH CAREY ihr Einfluss auf die zeitgenössische Popkultur. Ihre Art zu singen findet sich in sämtlichen TV-Castingshows wieder: Alle versuchen zu sein wie sie.

(Foto: DIRK MERTEN)

//Portrait


Es ist noch früh am Morgen, als VLADIMIR KARALEEV mit einem Becher Kaffee in der Hand aus einem schwarzen Taxi steigt. Der rote Teppich, der zu dem großen weißen Zelt führt, wird gerade erst ausgerollt. Am Eingang haben sich die muskelbepackten Securities bereits in Stellung gebracht, deren tiefschwarze Anzüge das Licht der aufgehenden Sonne reflektieren. Auch die ersten Models sind schon eingetroffen und suchen verschlafen aussehend die Garderobe. Gefolgt von seinen beiden Assistentinnen betritt auch KARALEEV das Innere des Zeltes. Drei Stunden bleiben ihm noch, um seine Show vorzubereiten. Alles muss sitzen, schließlich ist seine Präsentation eine der gefragtesten der BERLIN FASHION WEEK 2011.

Noch vor zehn Jahren hätte er sich diesen Erfolg nicht träumen lassen. Damals, als er nach Berlin kam, um an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Mode zu studieren, wollte VLADIMIR KARALEEV lediglich der gesellschaftlichen Enge seines Geburtslandes Bulgarien entfliehen und seine Träume verwirklichen. 1981 in Sofia geboren, kam er schon früh mit der Mode in Berührung. Oft  schaute er seiner Tante beim Nähen zu. Er war fasziniert davon, was sie aus ihren vielen unterschiedlichen Stoffen herstellte. Wenig später, im Alter von 14 Jahren, entwarf er bereits seine eigenen Outfits, zunächst nur für seine  Freunde, die sie auf Rave-Partys trugen. Regenmantelstoffe, Riesenhüte und Shirts mit Alien-Prints darauf, das waren seine ersten Kreationen. Sein liebstes Ensemble waren BJÖRK, GOLDIE und GAULTIER.

Die Musik beginnt, die Klänge des Stücks „I’m in Love with a German Film Star“ der britischen  Dream-Pop-Combo THE PASSIONS wabern durch den schwarzen Raum, den das Scheinwerferlicht in gelbes Licht taucht. Eines nach dem anderen betreten die Models die Bühne, die sich aus acht würfelförmigen Podesten zusammensetzt. Statt steifen, skulptural wirkenden Stücken tragen sie Kleider, die zu zerfallen scheinen und dabei von einer eigenen, eindrücklichen Schönheit sind. Das Geheimnis der Konstruktion der Kleider wird dem Betrachter nur durch KARALEEVS raffiniertes Layering offenbart, durch das an einzelnen Stellen das Futter durchblitzt. Charakteristischen Elementen wie Reißverschlüsse, Bündchen und Taschen beraubt der Designer ihrer eigentlichen Funktion, wodurch ihr ästhetisches Potential in den Vordergrund tritt. Trotz der statischen Präsentation scheinen die leicht fließenden Stoffe ständig in Bewegung zu sein und sich im Licht zu wandeln.

Bereits ab 1994 sah er die Mode nicht mehr als etwas Praktisches an sondern als Ausdrucksmittel – als eine Art Kunst. Diese Perspektive verdankte er seinem großen Vorbild JEAN PAUL GAULTIER. KARALEEV war begeistert von der Gewagtheit des französischen Modeschöpfers, seinen seltsamen Schuhen, den verrückten Drucken und den zerrissenen Kleidern. KARALEEVS Markenzeichen sind die bewusst offen gelassenen Säume der Kleidung. Wie er im Interview mit SPEX berichtet, seien diese für ihn verzichtbar, da sie den Kleidern eine gewisse Schwere verliehen. Die losen Fäden, die von den offenen Enden herunter hängen, verwirren im ersten Moment. Oft schon, erzählt KARALEEV, hätten ihn seine Kunden gefragt, ob die einzelnen Stücke schon fertig genäht seien. Dem Vorwurf, seinen Schnitten mangele es an Qualität, entgegnet der Designer, dass seine Kleider sauber und professionell verarbeitet sind. Das Ziel seiner Arbeit ist klar definiert: Sie soll die Kleidung vereinfachen. Überdesignte Mode ist nicht sein Stil.

Die gelben Scheinwerfer strahlen den Models in ihr blass geschminktes Gesicht. KARALEEV selbst ist in einen dunklen Schatten gehüllt. In der Nähe des Ausgangs steht er an einer Trennwand gelehnt, von der aus er konzentriert das Geschehen beobachtet. Man kann die Silhouette seiner großen, schlaksigen Figur nur erahnen. Als eine Kamera auf sein Gesicht gerichtet wird, scheint es sich für einen kurzen Moment zu verdunkeln. Der ganze Trubel, die Presse, das Blitzlichtgewitter – das alles ist nicht seine Welt. Er selbst sieht sich als „Createur“, nicht als Modestar. Entsprechend wirkt er etwas scheu, nicht so introvertiert wie CONSUELO CASTIGLIONI, die schüchterne Gründerin des Labels MARNI, aber man merkt sofort, dass er nicht gern im Rampenlicht steht. Genau diese zurückhaltende Art und das Leuchten in seinen Augen, wenn der ganze Raum zum Finale applaudiert, machen ihn so liebenswert. Es reißen sich seit seinem ersten Fashion Week Auftritt alle Leute um ihn. Noch am selben Abend steht VLADIMIR KARALEEV wieder in seinem Studio. Hier fühlt er sich zuhause.

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(Foto: PETROV AHNER)