Unredigiert

Eine Eingangsfrage, 30 Minuten Zeit. Mit unserem Format „Unredigiert“ wollen wir den Verlauf spontan geführter Interviews dokumentieren. Das Ziel dieses Unterfangens? Ein Gespräch auf Augenhöhe! Der Interviewte soll mitbestimmen, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelt. Das Resultat dieses Versuchs bekommt ihr ab jetzt in jeder Ausgabe von CARTOUCHE zu lesen. Und wer würde sich für den Start unseres Experiments besser eignen als eine Band wie MAN MEETS BEAR? Schließlich werden SOREN BROTHERS, EVELYN MALINOWSKI und DAVID DUNNETT in Berliner Szenekreisen für ihre Live-Improvisationen sehr geschätzt. Anstatt ihre Songs in ein festes Korsett zu zwängen, lassen sie sich auf der Bühne von ihrem Gefühl und ihrer Intuition leiten. Jedes Konzert wird auf diese Weise zu einem besonderen Erlebnis. Seit 2010 machen die drei Freund_innen zusammen Musik, im November 2012 tourten sie durch Dänemark und Deutschland. 

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Stil-Ikone, ANDY-WARHOL-Wegbegleiter und INTERVIEW-MAGAZINE-Macher GLENN O’BRIEN bereitet sich auf seine Interviews nicht vor. Er überrascht sein Gegenüber lieber mit spontan gestellten Fragen wie: „Was ist in deinem Kühlschrank?“ Oder: „Was hast du gerade in deiner Hosentasche?“ Entsprechend frage ich euch: Würdet ihr gern reich und berühmt sein?

SOREN: Nein danke!

DAVID: Das kommt für mich gar nicht in Frage!

EVELYN: Ich bin schon reich und berühmt, sorry!

Wirklich?

SOREN: Ja, das stimmt: EVELYN spielt bei DAFT PUNK! Das ist ihr Nebenprojekt.

SOREN, DAVID, ihr habt sofort abgelehnt, warum?

SOREN: Zu viel Geld macht auch nicht glücklich, das ist wissenschaftlich bewiesen. Ich hätte aber nichts gegen Anerkennung. Wenn, dann würde ich gern so sein wollen wie NEIL YOUNG: Der ist berühmt, sein Haus wird aber trotzdem nicht von Paparazzi belagert.

DAVID: Ein Celebrity zu sein klingt für mich wie das Schlimmste auf der Welt! Ich brauche meine Privatsphäre.

Man hat also kein Privatleben mehr, wenn man reich und berühmt ist? 

EVELYN: Doch, das geht schon. Die reale Person kann für immer im Verborgenen bleiben.

Das erinnert mich an BOB DYLAN – glaubt ihr, dass jemand den echten BOB DYLAN kennt?

DAVID: Ich weiß nicht mal, ob der echte BOB DYLAN sich selbst kennt.

Um auf meine Eingangsfrage zurück zu kommen: Wäre denn Berlin ein Ort, an dem man reich und berühmt werden kann? Wie seht ihr Berlin?

EVELYN: Ich denke, dass Berlin ein Ort ist, an den Leute kommen, die entweder ihre Karriere vorbereiten wollen oder die es schon zu Ruhm gebracht haben.

DAVID: Berlin fühlt sich an wie ein Altenwohnheim für kreative Menschen. Sie hatten ihre aktive Phase an anderen Orten und wollen sich hier entspannen…

EVELYN: … eine Familie gründen und ein Haus in Pankow mieten.

DAVID: Ich träume davon, später ein Haus in Pankow zu haben.

EVELYN: Es ist wirklich schön dort!

SOREN: Ich bin dort noch nie gewesen…

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Wie seht ihr die Indie-Musikszene Berlins? 

SOREN: Die Szene hier ist sehr fragmentiert. Leute kommen, Leute gehen. Viele Bands betrachten Berlin als sicheren Hafen, von dem aus sie die Welt bereisen können. Eine lokale Szene wie in Brooklyn oder Montreal gibt es hier allerdings nicht.

Was unterscheidet Brooklyn oder Montreal von Berlin?

SOREN: Die Leute, die dorthin kommen, wollen etwas erreichen.

Und in Berlin ist das anders?

SOREN: Richtig.

DAVID: Ich kenne Brooklyn nicht genug, um davon sprechen zu können, ich weiß aber, dass die Musikszenen in Toronto oder Montreal so gut funktionieren, weil es dort eine kleine Gruppe extrem leidenschaftlicher Menschen gibt, die alles für die Musik geben. Sie bringen Bands miteinander in Kontakt und erschließen neue Räume. In Berlin scheint es solche Leute nicht zu geben. Zumindest kenne ich keine.

EVELYN: Fairerweise muss man aber auch sagen, dass das alles in Toronto und Montreal auch nicht von heute auf morgen passiert ist. Die Szenen dort sind das Resultat langer harter Arbeit. Vielleicht ist die Szene Berlins einfach noch zu jung. Schau dir uns an: Wir sind alle auch relativ neu hier. Ich wohne erst seit 2010 in Berlin.

Es baut sich also gerade was auf?

EVELYN: Es fühlt sich zumindest so an.

SOREN: Ich sehe das aber nicht nur negativ. Vielmehr ist es sehr erfrischend, dass es hier noch keine all zu sehr gefestigten Strukturen gibt. Wenn du in Montreal nicht zur Clique gehörst, kriegst du weder Gigs noch Anerkennung. Zwei bis drei Leute entscheiden dort über das Schicksal vieler. Das hat die Szene dort sehr gelähmt. Am Ende standen dort Bands auf der Bühne, die nichts drauf hatten, aber die richtigen Leute kannten. Berlin ist weit weniger elitär. Du kannst spielen, wo du Lust hast. Du musst nur fragen.

EVELYN: Berlin ist echt locker. Statt Cliquen-Denken gibt es hier einen Support für außergewöhnliche Musik.

Warum seid ihr nach Berlin gekommen?

SOREN: Ich wollte die Berliner Mauer sehen.

DAVID: Ich mochte die Stadt. Ich hatte vorher in der Schweiz gewohnt und war hier oft zu Besuch.

EVELYN: Ich studiere.

Wo kommt ihr her?

DAVID: SOREN und ich sind aus Kanada, EVELYN kommt aus Montana in den USA.

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Wie habt ihr euch kennengelernt?

DAVID: Über Bekannte. Eine Freundin sagte eines Tages zu mir: »David, du bist doch Musiker und Wissenschaftler, ich kenne da einen Typen namens Soren, der ist auch Musiker und Wissenschaftler. Er zieht bald nach Berlin, ihr solltet euch mal kennenlernen«. Wir verabredeten uns und verstanden uns auf Anhieb.

Ihr seid also Wissenschaftler? 

SOREN: Richtig! ich bin Limnologe, beschäftige mich mit Seen.

DAVID: Und ich bin Ingenieur und Informatiker.

Die Überschneidungen sind also nicht so groß. 

DAVID: Genau, ich habe für Wissenschaft nicht viel übrig.

SOREN: Das wäre auch zu viel verlangt für einen Ingenieur. Viel zu kompliziert und philosophisch!

Habt ihr denn eine wissenschaftliche Herangehensweise an eure Musik?

SOREN: Nicht wirklich. Was ich aber an der Musik und an der Wissenschaft mag, ist das Storytelling. Wissenschaftler versuchen immer eine simple Geschichte zu erzählen, von der du glaubst, dass sie wahr ist. Eine Menge Kreativität ist dabei im Spiel, schließlich musst du Berge von Zahlen bewältigen. Ich glaube, dass das überhaupt das Schwierigste an meinem Job ist.

Wenn nicht durch die Wissenschaft, wodurch ist eure Musik dann beeinflusst?

EVELYN: Unsere Einflüsse variieren stark. Auf der einen Seite liebe ich straighte Klubmusik wie Tekkno. Manchmal habe ich aber auch Lust auf härtere Gitarrensounds und experimentelle Ansätze. Ich bin ein großer SONIC-YOUTH-Fan. DAVID hingegen ist mit Punkrock und Hardcore groß geworden. Er hat in einer Hardcore-Band gespielt.

SOREN: Ich habe eine klassische Klavierausbildung genossen. Entsprechend habe ich, als ich noch jünger war, vor allem klassische Musik gehört. Erst mit 16 Jahren habe ich moderne Musik für mich entdeckt.

Sprechen wir über eure Vorliebe für die Improvisation: Ich habe zwei eurer Shows gesehen, eine im MADAME CLAUDE und eine im ANTJE OEKLESUND. Jede war anders. Ist das Absicht? 

DAVID: Wir haben nur versucht, uns den Gegebenheiten anzupassen. Im Madame Claude darf man ja kein Schlagzeug benutzen.

SOREN: Gleichzeitig wollen wir immer etwas Neues ausprobieren. Uns wird schnell langweilig. Und wenn wir uns langweilen, besteht die Gefahr, dass das Publikum sich langweilt. Ich mag Shows, auf denen Unerwartetes passiert. Das ist der Grund, warum ich so gerne improvisiere.

EVELYN: Unsere Lieder werden niemals gleich klingen. Aus irgendeinem Grund wird von Rockbands immer erwartet, ihre Songs genauso zu spielen wie auf ihrer Platte. Das ist aber unmöglich!

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Ihr glaubt also nicht an Songs?

SOREN: Wir glauben zumindest nicht an die Idee, dass es die offizielle Version eines Songs gibt. Ich habe kein Verständnis für Leute, die versuchen, die »offizielle Version« eines Liedes aufzunehmen. Ich mag die Idee, dass wir die Möglichkeit haben, jedes Stück neu zu erfinden, egal zu welcher Zeit oder an welchem Ort wir es spielen.

DAVE: Ein Song hat sowas wie einen unbekannten Kern, der das Wesen dieses Songs bestimmt.

EVELYN: Die Gestalt dieses Kerns jedes mal neu zu definieren, darum geht es uns.

Würdet ihr euch selbst als Rockband bezeichnen?

EVELYN: Nein!

Wenn ihr also nicht reich und berühmt werden wollt, was sind eure Pläne für die Zukunft?

DAVID: Wir wollen Spaß haben!

Links: Bandcamp

(Fotos: MATTHIAS HEIDERICH)

//Playlist

Welche Songs und Alben begleiten unsere HeldInnen durch ihren Alltag? Diese Frage stellten wir verschiedenen ProtagonistInnen aus der Berliner Musik- und Modeszene. Sie verrieten uns nicht nur, was sie an den entsprechenden Liedern  fasziniert, sondern auch, welche Erlebnisse sie mit ihnen verbinden. Das Resultat dieser Interviews ist unsere neue Serie //Playlist. Den Auftakt gibt der Berliner Musikjournalist, Fotograf und DJ Maximilian Bauer alias Max Dax. Seit kurzem betreut er als Chefredakteur die Telekom-Zeitschrift Electronic Beats Magazine. Dort hat er sich Großes vorgenommen: Gemeinsam mit seinem prominent besetzten Team, zu dem unter anderem der Publizist Hans-Ulrich Obrist zählt, will Max Dax Mediengeschichte schreiben.

Popol Vuh: »In den Gärten Pharaos«

Max Dax: Die deutsche Krautrockband Popol Vuh, die von 1970 bis zum Tod ihres Gründers Florian Fricke 2001 zusammen spielte, hat die Scores für fast alle Filme Werner Herzogs komponiert – darunter »Fitzcarraldo«, »Herz aus Glas« und »Aguirre, der Zorn Gottes«. Auf einer kürzlich veröffentlichten Compilation mit dem Titel »Revisited & Remixed 1970-1999« begegnete ich dem Track »In den Gärten Pharaos« wieder – er stammt vom gleichnamigen Album von 1971. Ich hatte das Stück längst vergessen. Es wiederzuhören war mindblowing, weil es Schlüsse darüber zulässt, was heutiger Musik fehlt: Der Geist der Nichtfunktionaliät. Popol Vuh spielen eine hochinteressante Instrumentalmusik unter Verzicht jeglicher herkömmlicher Melodik – stattdessen hören wir übereinandergeschichtete Layer von Soundflächen und Perkussion. Das 17-minütige Ergebnis eignet sich perfekt für nächtliche Autofahrten durch Bodennebel mit begrenzter Sicht. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes bewusstseinserweiternd.

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Bob Dylan: »Can’t Wait«

Den Song hat Dylan im Juni 2011 in Mailand gespielt. Eine so düstere Performance habe ich von ihm selten zuvor gesehen. Es war, als träfen David Lynch und Screamin‘ Jay Hawkins aufeinander. Dylan war eine vollkommen andere Person in diesem Moment, als sei er ein Medium, über das ein verstorbener schwarzer Musiker mit unserer Welt kommuniziert. Ich war erstaunt zu sehen, wie einfach solcherlei Verwandlungen auf der Bühne offenbar stattfinden können. Wie eine Person, die man schon unzählige Male live gesehen hat, einen so überraschen kann. Die Live-Version hatte im Übrigen gar nichts mehr mit der Albumversion zu tun. So etwas finde ich toll, das ist situative Musik. Diese Verwandlungsfähigkeit ist das, was der Jazz einst hatte und ihm heute fehlt und was auch anderswo kaum noch zu hören ist. Das ist ein Grund dafür, warum mich recorded Musik heute oft langweilt und weswegen ich nichtfunktionale DJ-Sets, in denen es nicht bloß um Beat-Matching geht, sondern um eine Ausweitungen der Kampfzone, oft so faszinierend finde. Dan Snaith ist ein Meister dieser DJ-Methode. Bei seinen Sets ist es möglich, mit der Stimmung mitzugehen.

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Tyler, the Creator: »Goblin«

Die Platte ist genial. Abgesehen von ihrem Bass und ihrer Langsamkeit fasziniert mich ihre sprachliche Ebene. Tylers Texte sind comic-haft verzerrt: Es wird hier gar nicht mehr von Streits berichtet, sondern gleich umgebracht. Solche Darstellungen entbehren jeglicher Relation zur wirklichen Welt. Es handelt sich um Ghetto-Nachrichten in Kunstsprache. Mein persönlicher Höhepunkt der Platte ist der Song »Goblin«, in welchem Tyler unentwegt über Schwule schimpft, sich also so homophob zeigt, wie es schlimmer nicht geht. Irgendwann in der Mitte bemerkt er dann: »By the way: I’m not homophobic«. Das ist fantastisch, ätzend und um die Ecke gedacht zugleich. Tylers Berichterstattung aus dem Ghetto ist so absurd, das man hier von Kunst sprechen kann. Wenn eine Platte ein ›Hub‹ zu neuen Erkenntnissen sein kann, reicht mir das oft schon. Aber wenn die Musik dann auch noch so toll ist, dann kommt alles zusammen. Ich kann mich gar nicht satt hören an Tylers Songs.

(Photo: Luci Lux)