Playlist

AUSTIN BROWN hatte in seinem Leben viele Jobs. Er war Dachdecker, Barkeeper, Tontechniker und Tourgitarrist. All diese Tätigkeiten ging AUSTIN auf dieselbe intellektuelle Weise an. Als Dachdecker las er Wetterkarten und die Sterne, an den Flügen der Vögel konnte er erkennen, ob es sich lohnte, weiter zu arbeiten oder nicht. Bei der Musik sieht das nicht anders aus. Sein Wissen über Frequenzen, Filter, Effekte und Musikinstrumente scheint unbegrenzt. Das ist auch der Grund dafür, dass jede Band umwerfend klingt, bei der sich AUSTIN um den Sound kümmert. Es dürfte also keinen wundern, wenn wir sagen, dass AUSTINS Musikauswahl für die CARTOUCHE PLAYLIST ähnlich intellektueller Natur ist. Oberflächliche Merkmale wie gute Melodien sind für AUSTIN zweitrangig – viel wichtiger sind jene Details, die unerfahrenen Ohren verborgen bleiben. 

ALICE COLTRANE: »Journey in Satchidananda«

Journey in Satchidananda von ALICE COLTRANE ist eine umwerfende Platte. Ich habe sie hunderte Male gehört. Trotzdem hat sie noch immer denselben Effekt auf mich: Ich bin beeindruckt von ihrer intensiven Traurigkeit. Wenn ich diese Songs höre, kann ich mir bildlich vorstellen, wie schwer die Sängerin durch den Tod ihres Mannes JOHN COLTRANE getroffen wurde. Zugleich verfügt die Musik über eine meditative Energie. Hier verschmelzen östliche und westliche Musik-Traditionen: Indische Modi, Rhythmen und Tonleitern werden mit den Mitteln des Jazz interpretiert. Technisch ist die Platte von hoher Qualität – alle Musiker sind Profis. Bassist CHARLIE HADEN, Schlagzeuger RASHIED ALI und Pianist PHARAOH SANDERS hatten vorher mit JOHN COLTRANE zusammengespielt. Das restliche Ensemble bestand aus indischen Musikern. Die Platte ist aber noch aus einem anderen, viel politischeren Grund sehr bedeutend. Der Musikbetrieb war Anfang der 70er Jahre dominiert von Männern. Frauen wurden weder Ernst genommen, noch hatten sie etwas zu sagen. ALICE COLTRANE brach diese Machtverhältnisse auf: Zum einen war sie talentiert und stark, zum anderen bekam sie die besten Musiker des Betriebs. Das war schon etwas Besonderes damals. Zugegeben: YOKO ONO gab es zu der Zeit auch schon, im Gegensatz zu ALICE COLTRANE kann ich mir ihre Musik allerdings nicht anhören.

TALK TALK: »Laughing Stock«

Mit Laughing Stock teste ich bei Konzerten und Aufnahme-Sessions die Boxen. Wenn etwas nicht stimmt, finde ich es mit diesem Album heraus. Einen besseren Testton könnte ich mir nicht vorstellen. Aus Sicht eines Tontechnikers ist das Album nahezu perfekt. Das liegt vor allem an der großartigen Philosophie, die dahinter steckt: Hier trifft Improvisation auf Perfektion. Einerseits hielt man daran fest, dass die erste Performance die beste ist. Zum anderen verwendete man viel Zeit für die Arrangements und den Sound. Manche Songs hatten 200 Gitarrenspuren, aus denen dann die besten herausgesucht wurden. Der Produzent PHIL BROWN verbrachte Stunden damit, das Schlagzeug richtig im Raum zu positionieren. Er schlug auf eine Trommel, wartete bis der Ton abgeklungen war und entschied dann, ob sie so klang, wie sie es sollte. Traf dies nicht zu, bewegte er die Trommel an eine andere Stelle. Dieses Prozedere war notwendig, weil BROWN nur ein Raum-Mikro benutzte. Das Tolle daran ist, dass der Künstler, die Ästhetik und das Gefühl so an erste Stelle rückt. Erst danach kommt die Wissenschaft, deren einzige Funktion darin besteht, diese drei Komponenten zu verstärken. Wenn du mich fragst, wird dieses Album seine Relevanz so schnell nicht verlieren. Ich würde zwar niemals so arbeiten wollen, dennoch ist das Album einzigartig.

SHOGUN KUNITOKI: »Tasankokaiku«

Ich liebe Tasankokaiku für seine mathematische Schönheit. Alles, was du hier hören kannst, sind oszillierende Testtöne und Tremolo-Effekte, die in verschiedenen Taktzahlen gegeneinander laufen. Ich finde es beeindruckend, wie aus den einfachsten Mitteln eine derart komplexe Musik entstehen kann. Was mich an der Platte besonders überrascht hat, ist, dass die Musik sehr viel Gefühl besitzt, obwohl die Signale alle maschinell erzeugt sind und keine Dynamik besitzen. Und dieses Gefühl ist nicht etwa negativ. Ganz im Gegenteil spielt die Band Musik, die positiver nicht sein könnte. Mit nichts weiter als ein paar Testtönen schafft die Band somit das, was in meinen Augen das Schwierigste überhaupt ist: Hymnenhafte Musik zu spielen. Einfach großartig! Im Techno hat niemand je so etwas hinbekommen. Es ist toll, wenn Bands und Musiker verrückte Sachen ausprobieren und sich zugleich wissenschaftlich mit dem eigenen Handwerk auseinandersetzen. Das wird heute viel zu selten gemacht. Dieser musikalische Dilletantismus und der Spaß am Sampling, den alle vor sich her tragen, sind zu einer eigenen Ästhetik geworden, mit der ich nichts anfangen kann. Gebt mir jemanden, der mit einem Eimer einen Technobeat trommelt und dazu singt, und ich werde jubeln. Das und nichts Anderes ist Musik!

Links: AUSTIN BROWN Recordings

(Foto: Elisa Longhi)