Unredigiert

Eine Eingangsfrage, 30 Minuten Zeit. Mit unserem Format „Unredigiert“ wollen wir den Verlauf spontan geführter Interviews dokumentieren. Das Ziel dieses Unterfangens? Ein Gespräch auf Augenhöhe! Der Interviewte soll mitbestimmen, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelt. Das Resultat dieses Versuchs bekommt ihr ab jetzt in jeder Ausgabe von CARTOUCHE zu lesen. Und wer würde sich für den Start unseres Experiments besser eignen als eine Band wie MAN MEETS BEAR? Schließlich werden SOREN BROTHERS, EVELYN MALINOWSKI und DAVID DUNNETT in Berliner Szenekreisen für ihre Live-Improvisationen sehr geschätzt. Anstatt ihre Songs in ein festes Korsett zu zwängen, lassen sie sich auf der Bühne von ihrem Gefühl und ihrer Intuition leiten. Jedes Konzert wird auf diese Weise zu einem besonderen Erlebnis. Seit 2010 machen die drei Freund_innen zusammen Musik, im November 2012 tourten sie durch Dänemark und Deutschland. 

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Stil-Ikone, ANDY-WARHOL-Wegbegleiter und INTERVIEW-MAGAZINE-Macher GLENN O’BRIEN bereitet sich auf seine Interviews nicht vor. Er überrascht sein Gegenüber lieber mit spontan gestellten Fragen wie: „Was ist in deinem Kühlschrank?“ Oder: „Was hast du gerade in deiner Hosentasche?“ Entsprechend frage ich euch: Würdet ihr gern reich und berühmt sein?

SOREN: Nein danke!

DAVID: Das kommt für mich gar nicht in Frage!

EVELYN: Ich bin schon reich und berühmt, sorry!

Wirklich?

SOREN: Ja, das stimmt: EVELYN spielt bei DAFT PUNK! Das ist ihr Nebenprojekt.

SOREN, DAVID, ihr habt sofort abgelehnt, warum?

SOREN: Zu viel Geld macht auch nicht glücklich, das ist wissenschaftlich bewiesen. Ich hätte aber nichts gegen Anerkennung. Wenn, dann würde ich gern so sein wollen wie NEIL YOUNG: Der ist berühmt, sein Haus wird aber trotzdem nicht von Paparazzi belagert.

DAVID: Ein Celebrity zu sein klingt für mich wie das Schlimmste auf der Welt! Ich brauche meine Privatsphäre.

Man hat also kein Privatleben mehr, wenn man reich und berühmt ist? 

EVELYN: Doch, das geht schon. Die reale Person kann für immer im Verborgenen bleiben.

Das erinnert mich an BOB DYLAN – glaubt ihr, dass jemand den echten BOB DYLAN kennt?

DAVID: Ich weiß nicht mal, ob der echte BOB DYLAN sich selbst kennt.

Um auf meine Eingangsfrage zurück zu kommen: Wäre denn Berlin ein Ort, an dem man reich und berühmt werden kann? Wie seht ihr Berlin?

EVELYN: Ich denke, dass Berlin ein Ort ist, an den Leute kommen, die entweder ihre Karriere vorbereiten wollen oder die es schon zu Ruhm gebracht haben.

DAVID: Berlin fühlt sich an wie ein Altenwohnheim für kreative Menschen. Sie hatten ihre aktive Phase an anderen Orten und wollen sich hier entspannen…

EVELYN: … eine Familie gründen und ein Haus in Pankow mieten.

DAVID: Ich träume davon, später ein Haus in Pankow zu haben.

EVELYN: Es ist wirklich schön dort!

SOREN: Ich bin dort noch nie gewesen…

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Wie seht ihr die Indie-Musikszene Berlins? 

SOREN: Die Szene hier ist sehr fragmentiert. Leute kommen, Leute gehen. Viele Bands betrachten Berlin als sicheren Hafen, von dem aus sie die Welt bereisen können. Eine lokale Szene wie in Brooklyn oder Montreal gibt es hier allerdings nicht.

Was unterscheidet Brooklyn oder Montreal von Berlin?

SOREN: Die Leute, die dorthin kommen, wollen etwas erreichen.

Und in Berlin ist das anders?

SOREN: Richtig.

DAVID: Ich kenne Brooklyn nicht genug, um davon sprechen zu können, ich weiß aber, dass die Musikszenen in Toronto oder Montreal so gut funktionieren, weil es dort eine kleine Gruppe extrem leidenschaftlicher Menschen gibt, die alles für die Musik geben. Sie bringen Bands miteinander in Kontakt und erschließen neue Räume. In Berlin scheint es solche Leute nicht zu geben. Zumindest kenne ich keine.

EVELYN: Fairerweise muss man aber auch sagen, dass das alles in Toronto und Montreal auch nicht von heute auf morgen passiert ist. Die Szenen dort sind das Resultat langer harter Arbeit. Vielleicht ist die Szene Berlins einfach noch zu jung. Schau dir uns an: Wir sind alle auch relativ neu hier. Ich wohne erst seit 2010 in Berlin.

Es baut sich also gerade was auf?

EVELYN: Es fühlt sich zumindest so an.

SOREN: Ich sehe das aber nicht nur negativ. Vielmehr ist es sehr erfrischend, dass es hier noch keine all zu sehr gefestigten Strukturen gibt. Wenn du in Montreal nicht zur Clique gehörst, kriegst du weder Gigs noch Anerkennung. Zwei bis drei Leute entscheiden dort über das Schicksal vieler. Das hat die Szene dort sehr gelähmt. Am Ende standen dort Bands auf der Bühne, die nichts drauf hatten, aber die richtigen Leute kannten. Berlin ist weit weniger elitär. Du kannst spielen, wo du Lust hast. Du musst nur fragen.

EVELYN: Berlin ist echt locker. Statt Cliquen-Denken gibt es hier einen Support für außergewöhnliche Musik.

Warum seid ihr nach Berlin gekommen?

SOREN: Ich wollte die Berliner Mauer sehen.

DAVID: Ich mochte die Stadt. Ich hatte vorher in der Schweiz gewohnt und war hier oft zu Besuch.

EVELYN: Ich studiere.

Wo kommt ihr her?

DAVID: SOREN und ich sind aus Kanada, EVELYN kommt aus Montana in den USA.

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Wie habt ihr euch kennengelernt?

DAVID: Über Bekannte. Eine Freundin sagte eines Tages zu mir: »David, du bist doch Musiker und Wissenschaftler, ich kenne da einen Typen namens Soren, der ist auch Musiker und Wissenschaftler. Er zieht bald nach Berlin, ihr solltet euch mal kennenlernen«. Wir verabredeten uns und verstanden uns auf Anhieb.

Ihr seid also Wissenschaftler? 

SOREN: Richtig! ich bin Limnologe, beschäftige mich mit Seen.

DAVID: Und ich bin Ingenieur und Informatiker.

Die Überschneidungen sind also nicht so groß. 

DAVID: Genau, ich habe für Wissenschaft nicht viel übrig.

SOREN: Das wäre auch zu viel verlangt für einen Ingenieur. Viel zu kompliziert und philosophisch!

Habt ihr denn eine wissenschaftliche Herangehensweise an eure Musik?

SOREN: Nicht wirklich. Was ich aber an der Musik und an der Wissenschaft mag, ist das Storytelling. Wissenschaftler versuchen immer eine simple Geschichte zu erzählen, von der du glaubst, dass sie wahr ist. Eine Menge Kreativität ist dabei im Spiel, schließlich musst du Berge von Zahlen bewältigen. Ich glaube, dass das überhaupt das Schwierigste an meinem Job ist.

Wenn nicht durch die Wissenschaft, wodurch ist eure Musik dann beeinflusst?

EVELYN: Unsere Einflüsse variieren stark. Auf der einen Seite liebe ich straighte Klubmusik wie Tekkno. Manchmal habe ich aber auch Lust auf härtere Gitarrensounds und experimentelle Ansätze. Ich bin ein großer SONIC-YOUTH-Fan. DAVID hingegen ist mit Punkrock und Hardcore groß geworden. Er hat in einer Hardcore-Band gespielt.

SOREN: Ich habe eine klassische Klavierausbildung genossen. Entsprechend habe ich, als ich noch jünger war, vor allem klassische Musik gehört. Erst mit 16 Jahren habe ich moderne Musik für mich entdeckt.

Sprechen wir über eure Vorliebe für die Improvisation: Ich habe zwei eurer Shows gesehen, eine im MADAME CLAUDE und eine im ANTJE OEKLESUND. Jede war anders. Ist das Absicht? 

DAVID: Wir haben nur versucht, uns den Gegebenheiten anzupassen. Im Madame Claude darf man ja kein Schlagzeug benutzen.

SOREN: Gleichzeitig wollen wir immer etwas Neues ausprobieren. Uns wird schnell langweilig. Und wenn wir uns langweilen, besteht die Gefahr, dass das Publikum sich langweilt. Ich mag Shows, auf denen Unerwartetes passiert. Das ist der Grund, warum ich so gerne improvisiere.

EVELYN: Unsere Lieder werden niemals gleich klingen. Aus irgendeinem Grund wird von Rockbands immer erwartet, ihre Songs genauso zu spielen wie auf ihrer Platte. Das ist aber unmöglich!

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Ihr glaubt also nicht an Songs?

SOREN: Wir glauben zumindest nicht an die Idee, dass es die offizielle Version eines Songs gibt. Ich habe kein Verständnis für Leute, die versuchen, die »offizielle Version« eines Liedes aufzunehmen. Ich mag die Idee, dass wir die Möglichkeit haben, jedes Stück neu zu erfinden, egal zu welcher Zeit oder an welchem Ort wir es spielen.

DAVE: Ein Song hat sowas wie einen unbekannten Kern, der das Wesen dieses Songs bestimmt.

EVELYN: Die Gestalt dieses Kerns jedes mal neu zu definieren, darum geht es uns.

Würdet ihr euch selbst als Rockband bezeichnen?

EVELYN: Nein!

Wenn ihr also nicht reich und berühmt werden wollt, was sind eure Pläne für die Zukunft?

DAVID: Wir wollen Spaß haben!

Links: Bandcamp

(Fotos: MATTHIAS HEIDERICH)

Gespräche

2012 war ein gutes Jahr für NADINE AND THE PRUSSIANS. Gemeinsam mit DIE-TÜREN-Bassist RAMIN BIJAN und WHITEST-BOY-ALIVE-Produzent NORMAN NITZSCHE spielten sie ihre erste EP ein, CHRISTIANE RÖSINGER ließ sie in ihrer sagenumwobenen FLITTCHENBAR auftreten und auch in den Medien hat das Popduo einige Beachtung gefunden. Sie alle haben Recht. NADINE FINSTERBUSCH und BRUNO BAUCH haben ein paar großartige Popsongs geschrieben, die eine unwiderstehliche Leichtigkeit versprühen. Eine tolle Liveband sind die beiden MusikerInnen aus Berlin und Dortmund obendrein. Ausruhen wollen sich NADINE und BRUNO auf diesen ersten Erfolgen allerdings nicht und haben für 2013 bereits weitere Pläne geschmiedet: Die EP soll veröffentlicht, die Band erweitert und die erste große Tour in Angriff genommen werden. Im Interview mit CARTOUCHE sprach das Duo über sein Erfolgsjahr, seine Gründungsgeschichte und seine Zukunft.

NADINE, BRUNO, ihr beide kommt ursprünglich aus Dortmund. Wie seid ihr mit Musik in Berührung gekommen?

NADINE: Das ist schwer einzugrenzen. Prägend war sicherlich, dass ich im Kinderchor gesungen habe. Dort habe ich neben Kinderliedern eine Menge Popsongs kennen gelernt, BEATLES, TAKE THAT und so Sachen. Das Fernsehen spielte aber auch eine wichtige Rolle. Ich habe viel MTV und VIVA II geguckt. Eines Tages sah ich dort einen Auftritt von BJÖRK. Ich war überwältigt und beschloss, genauso zu werden wie sie.

BRUNO: Bei mir lief das hauptsächlich über die Familie. Meine Eltern hatten eine große Plattensammlung, mein Bruder ist Musiker.

Und wie habt ihr euch kennen gelernt?

NADINE: Während einer Klassenfahrt nach Norderney. BRUNO und ich gingen damals in dieselbe Klasse. Während die anderen in einer norddeutschen Dorfdisko tanzen waren, blieben wir in der Herberge und spielten Musik. An dem Abend schrieben wir auch unseren ersten Song »Jacket with my Pocket«. Das war 1996. BRUNO war 15 und ich 16 Jahre alt.

BRUNO: Danach haben wir eifrig weiter gemacht. NADINE kam nach der Schule oft mit zu mir. Ganze Nachmittage haben wir in meinem Zimmer gesessen und Songs geschrieben. Unsere erste Band nannten wir THE POSH KIDS. Wenig später gründeten wir mit ein paar Freunden LORKA, mieteten einen Proberaum, nahmen ein Album bei einem kleinen Label auf und spielten eine ganze Reihe Konzerte in Nordrhein-Westfalen.

Gibt es in Dortmund so etwas wie eine Musikszene?

BRUNO: Zumindest haben viele Leute eine Band, das sind allerdings eher so Profi-Mucker, die Jazz spielen oder Metal. Ein paar gute Konzerträume hat die Stadt auch zu bieten.

NADINE: Wir haben aber nirgendwo richtig reingepasst mit unserer Musik, deshalb waren wir auch nie Teil einer Szene.

Ihr macht schon so lange Musik zusammen. Wird das nicht irgendwann langweilig?

BRUNO: Ganz im Gegenteil. Nach all der Zeit verstehen wir uns fast blind. Es ist schon ein bisschen unheimlich, dass wir von der Ästhetik her immer in dieselbe Richung gehen.

Wann habt ihr THE PRUSSIANS gegründet?

NADINE: Das war 2007, kurz vor meinem Umzug nach Berlin. Ich sollte ein Konzert spielen, hatte aber keine Band mehr, weil LORKA zu der Zeit schon lange nicht mehr existierte. Allein auftreten wollte ich aber auch nicht. Ich suchte also nach Mitmusikern. Wenig später saß ich bei BRUNO in der Küche und schrieb mit ihm an neuen Songs. Es war direkt wieder wie früher.

Euch gibt es also schon seit fünf Jahren!?

BRUNO: Genau. Mein Job und die große Distanz zwischen Berlin und Dortmund haben verhindert, dass ich mehr Zeit und Energie in die Band investieren konnte. Deshalb hatte das Projekt eine lange Anlaufphase.

NADINE: Wir haben am Anfang viel mit der Besetzung herumexperimentiert. Mal waren wir mehr, mal weniger. Eine Zeit lang bin ich sogar ganz allein aufgetreten.

Wann kam die Wende?

BRUNO: Ende 2011, als ich merkte, dass mir die Musik sehr wichtig ist. Ich habe meinen Job gekündigt und bin jetzt viel öfter in Berlin. Ganz nach Berlin ziehen kann ich aber nicht. Ich bin Grafikdesigner, die Konkurrenz hier ist einfach zu groß.

NADINE: BRUNO musste geahnt haben, dass sich bald tolle Gelegenheiten für uns ergeben sollten.

Was für Gelegenheiten waren das?

NADINE: Wir haben unsere erste EP aufgenommen. Mit RAMIN BIJAN von den TÜREN.

Wie ist diese Zusammenarbeit zustande gekommen?

NADINE: Ich arbeite in einer Kantine in Kreuzberg, an die Kreativ- Büros, Ateliers, Proberäume und Tonstudios angeschlossen sind. Die Leute, die dort arbeiten, essen regelmäßig bei uns. RAMIN ist einer von ihnen. Irgendwann kamen wir dann ins Gespräch. Und als ich für einen Freund einen Song zu einem Festival in Graz beisteuern sollte, fragte ich RAMIN, ob er mir helfen wolle. Er stimmte zu und die Arbeit lief so gut, dass ich ihn bat, unser Demo abzumischen. Er hörte sich die Songs an und fand sie so gut, dass er vorschlug, sie noch einmal mit einer Band neu aufzunehmen. Das war Ende November 2011. Im Februar 2012 sind wir dann ins Studio gegangen.

Wer war noch alles an den Aufnahmen beteiligt?

NADINE: SEBASTIAN von JA PANIK, LEO AURI von THE SAY HIGHS und NORMAN NITZSCHE. Was SEBASTIAN für uns am Schlagzeug gespielt hat, war großartig. Eine Freundin hat uns einander vorgestellt. LEO hat die Pianos und Keyboards eingespielt. NORMAN schaute am ersten Tag der Sessions vorbei, weil er mal in unsere Musik reinhören wollte. Am nächsten Tag kam er wieder und blieb dann bis zum Schluss. Alle Beteiligten haben lauter tolle Ideen beigetragen, es war eine super Zusammenarbeit.

BRUNO: Insgesamt haben wir sechs Songs mit Band aufgenommen und drei Songs zu zweit. Nach circa einem Monat waren wir fertig.

Und wie geht es jetzt weiter?

BRUNO: Wir wollen unsere Band erweitern. Nicht mehr nur zu zweit auftreten wie bisher, sondern mit mehr Leuten. Auch wenn das mit den Loops sehr viel Spaß macht und wir als Duo super funktionieren.

NADINE: Die aufgenommen Songs auf CD oder Vinyl zu veröffentlichen wäre ebenfalls toll. Ein Video haben wir ja schon. Auf Tour zu gehen ist ein weiteres großes Ziel!

Ihr wollt also Ernst machen.

BRUNO: Richtig. Wir sind gerade unglaublich produktiv, haben viele Songideen. Vielleicht war diese Ruhephase am Anfang des Projekts doch ganz gut. So konnten wir unsere Energie sammeln.

NADINE: Seit diesem Glück mit den Aufnahmen passieren immer mehr tolle Sachen. Wir haben das Gefühl, dass wir jetzt etwas mehr Aufmerksamkeit bekommen. Auch in Wien haben wir im letzten Jahr gespielt, einer der Höhepunkte 2012.

Wie würdet ihr eure Musik beschreiben?

NADINE: Ich sage immer, wir machen Popmusik.

BRUNO: Wir sind heute wesentlich eingängiger als früher. Nicht mehr so vertrackt.

Was sind eure Einflüsse?

NADINE: BEACH HOUSE und BJÖRK zum Beispiel. BEACH HOUSE haben uns bestärkt, unser Ding weiter zu machen, schließlich sind sie auch ein Duo. Ihre Songs haben eine tolle Stimmung. Bei BJÖRK hat mich ihre Art, an Gesangsmelodien heranzugehen, sehr beeinflusst. Obwohl unsere Melodien eingängiger sind.

NADINE, wenn du nicht Musik machst, liest du aus deinen alten Tagebüchern vor, wie bist du auf diese Idee gekommen?

NADINE: Ich habe meine Tagebücher bei einem Umzug gefunden. An die meisten Sachen konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, fand es aber lustig, mich wieder damit auseinander zu setzen. Eigentlich wollte ich es dann nur meinen Freunden vorlesen. Letzten Endes wurde aber doch eine größere Sache draus. Unter anderem habe ich zweimal beim 100°-FESTIVAL im HAU gelesen, in Basel, Wien, Dortmund, Hamburg und Würzburg. In der Schweiz gab es sogar einen kurzen Fehrnsehbericht über die Lesung. Wow!

Du warst also nicht peinlich berührt von deinem früheren Ich?

NADINE: Nein, ich lache eher darüber.

BRUNO: Es ist echt schade, dass das Tagebuch genau dann endet, wenn wir uns kennenlernen.

Gibt es eine Anekdote, die du besonders magst?

NADINE: Meine Lieblingsstelle ist die, in der ich ein Drehbuch für einen Film verfasse mit dem Titel: „You are my Babe“. Die Hauptrolle spielen ich und MARK OWEN von TAKE THAT, in den ich damals verliebt war. Die Handlung ist unabsichtlich abgekupfert von Bodyguard, vor allem die Szene, in der ich wie WHITNEY HOUSTON am Ende in den Jet einsteige und zurück renne und MARK mir daraufhin sagt, dass er mich liebt. Am Ende heiraten wir bei den MTV EUROPEAN MUSIC AWARDS und kriegen Zwillinge. Wir gehen gemeinsam auf Tour, ich bringe meine Soloplatten raus und spiele als Vorgruppe von TAKE THAT. Das ist so gut, das müsste man verfilmen.

Ihr beiden seid inzwischen ja auch schon älter als dreißig. Kann man zu alt werden für Popmusik?

NADINE: Ich fühle mich nicht wirklich alt, mir wird auch immer gesagt, ich sähe aus wie 26!

BRUNO: Ich glaube, das ist eher umgekehrt. Schau dir SONIC YOUTH an. Obwohl die über 50 sind, ist ihre Popularität ungebrochen.

NADINE: Genau. Ich würde noch immer alles dafür geben, einmal mit THURSTON MOORE ausgehen zu können.

Mit 30 hört das Leben also nicht auf?

BRUNO: Auf keinen Fall. Ich kenne mehrere Leute in meinem Alter, die gerade ihre Jobs gekündigt und sich selbstständig gemacht haben.

NADINE: In Berlin ist das ja auch eigentlich kein Thema. Wie heißt es in diesem Schlager so schön: „Das Alter ist nur eine Zahl“.

Links: Homepage / Tagebuch NADINE

Fotos: MATTHIAS HEIDERICH

//Gespräche

Das Kottbusser Tor ist einer der Orte Berlins, die nie zu schlafen scheinen. Auch an diesem verregneten Donnerstagabend sind wieder viele Nachtschwärmer auf den Gehwegen rund um den Platz unterwegs, auf der Suche nach der nächsten Party. Durch die großen Fenster der Monarchbar kann man das Treiben am Kottbusser Tor genau beobachten. Hier wird in einer Stunde die US-amerikanische Band WIDOWSPEAK auf der Bühne stehen, die gerade ihre erste Tour durch Europa absolviert. Für ihr Debütalbum, auf dem sie den Geist alter Westernfilme zu leben erwecken, wurden Sängerin MOLLY HAMILTON, Gitarrist ROB THOMAS und Schlagzeuger MICHAEL STASIAK, in den USA und Europa viel gelobt. Kurz nachdem das Trio seinen Soundcheck beendet hat, macht es sich gemeinsam mit uns auf die Suche nach einem ruhigen Ort für unser Interview. Wie sich herausstellt, ist das gar nicht so einfach. Zehn Minuten später lassen wir uns in einem nahe gelegenen Treppenhaus nieder. Doch auch hier kommen wir nicht wirklich zur Ruhe, weil sich immer wieder Leute an uns vorbeischieben. Den drei FreundInnen macht das zum Glück wenig aus. Gut gelaunt und geduldig beantworten sie all unsere Fragen.

Seit zwei Wochen seid ihr nun schon in Europa unterwegs, wie lief die Tour bis jetzt?

MOLLY HAMILTON: Bisher lief alles gut. Ich wünschte, die Tour würde niemals enden.

ROB THOMAS: Wir können unser Glück gar nicht fassen. In den letzten Wochen haben wir an Orten gespielt, die keiner von uns je zuvor gesehen hat. Unsere Tour startete in London, danach folgten weitere Auftritte in England, bevor es nach Frankreich, Italien, in die Niederlande und die Schweiz ging. Wir haben so viele tolle Menschen kennengelernt und an aufregenden Orten gespielt.

Was für Orte waren das?

MOLLY: In Bologna traten wir in dem Keller eines Ladens auf, in dem man Rasierwasser kaufen konnte. Der Keller war klein, die Gäste brachten Essen und Getränke mit – eine sehr gemütliche Atmosphäre also.

ROB: Der Gig gehört auch zu meinen Favoriten. Vor Bologna waren wir in den Niederlanden, wo wir in riesigen Komplexen spielten, in denen Proberäume, Restaurants und Wohnungen untergebracht waren. Eine nette Abwechslung zu unseren „normalen“ Shows in Brooklyn.

Habt ihr ein Tour-Ritual? THURSTON MOORE, der Sänger von SONIC YOUTH, hat ja auf Tour am liebsten Plattenläden unsicher gemacht.

MICHAEL STASIAK: Hätte ich genug Geld, würde ich dasselbe tun. Ich sammle leidenschaftlich gerne Platten! In Brooklyn arbeite ich in einem Plattenladen.

ROB: MOLLY und ich interessieren uns sehr für Architektur. Wann immer es die Zeit erlaubt, drehen wir eine Runde durch die Stadt und besichtigen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten.

MOLLY: Wir frühstücken auch oft zusammen. Das machen wir sonst nie.

Was gibt es bei euch zum Frühstück?

ROB: Auf jeden fall heißer Kaffee  – wir lieben Kaffee!

Mit einem Schuss Whiskey? Hört man eure Musik, würde das passen. Aber im Ernst: Warum macht ihr Rockmusik?

ROB: Du nennst das, was wir machen „Rockmusik“? Wie lustig! In New York würden die Leute sagen, dass wir psychedelischen Folk oder Dream Pop spielen.

MOLLY: Wir sind zu leise, um eine echte Rockband zu sein, dafür fehlt uns die nötige Power. Wir haben weder Bass noch Crash-Becken!

Wie habt ihr zu Eurem Sound gefunden?

MICHAEL: Über Konzerte. Das beste, was du als junger Musiker machen kannst, ist deinen Freunden beim Spielen zu zuschauen und dir zu überlegen, wie du das Gehörte auszubauen und in deine eigene Musik einfließen lassen kannst.

ROB: Hören ist definitiv ein gutes Stichwort: Als wir das Album aufnahmen, habe ich versucht Elemente meiner Lieblingssongs in unsere Stücke einzubauen.

Welche Künstler haben eure Musik beeinflusst?

MICHAEL: Meine großen Vorbilder sind AL JACKSON von BOOKER T. & THE M.G.’S, BOBBY GILLESPIE von THE JESUS AND MARY CHAIN und MOE TUCKER von THE VELVET UNDERGROUND.

MOLLY: Wir hören generell viel alte Musik. Da ist alles dabei, von den 20ern bis zu den 90ern. Ich bin ein großer Fan der CARTER FAMILY, von HANK WILLIAMS, alten Bluesmusiker wie BLIND WILLIE JOHNSON oder MISSISSIPPI JOHN HURT, aber auch von Bands wie R.E.M. und THE CRANBERRIES.

Wo habt ihr diese alten Nummern her, aus dem Plattenschrank eurer Eltern?

MOLLY: Schön wär’s! Meine Eltern liebten Grunge, entsprechend musste ich mir alles, was älter war, selbst besorgen. JONI MITCHELL habe ich zum Beispiel rein zufällig in einem Plattenladen entdeckt. Ich war zwölf Jahre alt, wusste nicht was ich kaufen sollte und entschied mich schließlich für ein Album, das nur 99 Cents kostete.

ROB: Bei mir war es ganz ähnlich. Da meine Eltern keine Musikfans sind, musste ich mir sogar Klassiker wie die ROLLING STONES woanders besorgen. Um alte Musik zu erschließen, habe ich eine einfache Strategie: Ich finde heraus, welche Bands meine Lieblingsband mochte und höre sie mir an. Dasselbe mache ich dann mit diesen Bands. Eine Zeitreise durch die Musikgeschichte sozusagen!

MICHAEL: Ich habe immer versucht, das genaue Gegenteil von dem zu hören, was mein Vater in seinem Plattenschrank stehen hatte.

MOLLY: Was steht denn da?

MICHAEL: Rumours

MOLLY: … wirklich? Ich liebe FLEETWOOD MAC! Es ist schade, dass meine Eltern das nicht gehört haben – so viel Musik, die ich erst viel zu später entdeckt habe.

Inwiefern hat das Internet die Suche nach älterer Musik erleichtert? Archive wie Wikipedia bieten ja eine gute Möglichkeit, sich schnell und bequem durch die gesamte Musikgeschichte zu klicken.

MOLLY: Das stimmt! Ganz besonders alte Musik, die du sonst nur in alten Bibliotheken findest, kannst du dank des Internets so einfach bekommen. Egal, ob du nun nach Musik aus den 30ern suchst oder nach einer limitierten Auflage einer Punkband aus den 70ern.

MICHAEL: Das ist aber nicht nur mit alter Musik so. Auch zeitgenössische Musik ist viel einfacher zugänglich. Schau dir nur unsere Band an. Uns gibt es gerade erst ein Jahr, trotzdem haben wir Fans in vielen verschiedenen Ländern. Ohne Internet wäre das nicht möglich gewesen.

Das stimmt. Aber war es nur das Internet, das für euren rasanten Karrierestart gesorgt hat?

MOLLY: Das Internet war sicherlich ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Faktor. Unser Label hat uns auch sehr geholfen. Wie die uns so schnell gefunden haben, ist mir noch immer ein Rätsel. Vielleicht haben sie unsere Demoaufnahmen auf irgendeinem Musikblog entdeckt. Jedenfalls schickten sie uns kurz nach unserem ersten Konzert eine Mail, in der sie fragten, ob wir noch andere Aufnahmen hätten?

Und wie habt ihr euren Weg in die Musikszene Brooklyns gefunden?

MOLLY: Das geht ziemlich schnell in Brooklyn. Du musst einfach nur ein paar Shows spielen oder auf Konzerte gehen. Eine unserer ersten Shows war im Shea Stadium, wo wir für DUTCH TREAT und TOTAL SLACKER den Abend eröffneten, die zwei sehr bekannte Bands aus Brooklyn sind.

MICHAEL: Mit jeder unserer Lieblingsbands aus Brooklyn haben wir bis jetzt schon zusammengespielt. Im Herbst erst waren wir mit den VIVIAN GIRLS auf  Tour, von denen ich ein großer Fan bin!

Gibt es jemanden aus der Szene, mit dem ihr gerne mal zuammenarbeiten würdet?

MICHAEL: Alle Leute, mit denen wir gerne Musik machen würden, sind tot. Ich würde mein Leben dafür geben, einmal mit BUDDY HOLLY spielen zu können. BUDDY war wie wir ein großer Freund des Minimalismus. In vielen seiner Songs hielt ein Koffer als Schlagzeug her.

ROB: Es wäre toll mit jemandem zusammen zu arbeiten, der sich außerhalb unseres Kosmos befindet, einem Folk- oder Bluesmusiker.

MOLLY: Ja, irgendein Künstler auf MISSISSIPPI-RECORDS. Sonst fällt mir auch keiner ein… Ich bin mir aber sicher, dass uns im Laufe unserer Karriere noch der ein oder andere über den Weg läuft, mit dem man gern zusammen Musik machen möchte.

Eure Musik würde super in Westernfilme passen. Aber auch im Soundtrack zu Pulp Fiction wäre sie gut aufgehoben. Mögt ihr den Film?

MOLLY: Wir lieben Pulp Fiction!

MICHAEL: Wir haben uns den Soundtrack gerade erst gekauft. Auf der Tour mit den VIVIAN GIRLS lief er die ganze Zeit im Van.

MOLLY: Es war verrückt, den Soundtrack nach der Aufnahme unseres Albums zu hören. Er ist eine Quintessenz dessen, was wir mögen und machen.

ROB: Ich mag die Idee des Soundtracks, also dass die Musik die Bilder ergänzt. Ähnliches versuchen wir bei Widowspeak: Artwork, Musik und Auftreten sollen eine Einheit bilden.

A propos: Wer hat die Cover eurer EPs und eures Albums gestaltet? Ich finde, dass sie sehr gut zur Musik passen.

MOLLY: Vielen Dank! Die Bilder stammen von JOHN STORTZ, einem Freund von ROB. Sie haben sich in New York kennengelernt.

ROB: Ich mochte seine Arbeit und dachte mir, dass sein Stil perfekt zu unserer Musik passt. Also habe ich ihn überredet, für uns zu arbeiten.

MOLLY: Wir hatten JOHN, wussten aber nicht, was er zeichnen sollte. Da stieß ich in einem Buchladen unverhofft auf eine alte Paperback-Ausgabe von HERMANN HESSES Steppenwolf und verliebte mich sofort in das Artwork, das mit Wasserfarben gestaltet war. Nach so etwas hatten wir die ganze Zeit gesucht.

ROB: Wir sendeten ihm das HESSE-Buch und sagten ihm, dass wir die Atmosphäre des Bildes mochten.

Was für eine Atmosphäre war das?

MOLLYEine gespensterhafte und nostalgische Atmosphäre – genau wie in unserer Musik.

ROB: Unsere Musik ist neu und vertraut zugleich, ohne dabei alt zu wirken. Sie ist wie etwas, das dir bekannt vorkommt, das du aber nicht sofort wiedererkennst.

Links: bandcamp / captured tracks

(Foto: DALE W. EISINGER)



//Empfehlung

Als rockaffiner Teenager kommt man an NIRVANA nur schwer vorbei. Ich selbst war 15 Jahre alt, als ich die Band für mich entdeckte. Die rohe Gewalt ihres Debütalbums Bleach gab mir genau das, was ich damals brauchte. Einen Winter lang interessierte mich nichts anderes. Ich las COBAINS Tagebücher, zwei Biographien und sah mir auf MTV sämtliche Dokumentationen über die Band an. Dabei stieß ich auch auf den Film „1991 – The Year Punk Broke“ von DAVE MARKEY, der während der legendären Tour von NIRVANA, SONIC YOUTH, DINOSAUR JR. und den RAMONES durch Europa im August 1991 aufgenommen wurde. An den Film heranzukommen gestaltete sich damals äußerst schwierig, da die VHS nicht mehr verkauft wurde. Das hat sich jetzt zum Glück geändert: 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung erscheint MARKEYS Dokumentation endlich auf DVD.

MARKEYS Film lohnt sich allein schon wegen der Szenen mit KURT COBAIN. Wir schauen dem Sänger dabei zu, wie er sich, sichtlich vergnügt, von SONIC-YOUTH-Bassistin KIM GORDON schminken lässt. Oder sich lachend auf dem Boden eines Backstage-Raums wälzt. Der KURT COBAIN aus MARKEYS Film ist das krasse Gegenteil des verdrossenen und drogenabhängigen Rockstars, der er einmal werden sollte. Diesen Eindruck bestätigte MARKEY gegenüber dem Jounalisten DAVID BROWNE: “Diese Tour war für alle, die dabei waren, der letzte Moment der Unschuld”, sagt er in BROWNES Buch Goodbye 20th Century, das 2009 erschien.

Das restliche Material ist nicht minder interessant, zeigt es die einzelnen Protagonisten von einer Seite, die ich so noch gar nicht kannte. Besonders überrascht haben mich die Entertainer-Qualitäten THURSTON MOORES, den ich mir wesentlich ernster vorgestellt hatte. In MARKEYS Film dreht der SONIC-YOUTH-Sänger so richtig auf: Großartig die Szene, in der er, einem Prediger gleich, aus seinem Hotelfenster lehnt und Passanten (eine Mutter mit Kind) auffordert zu zeigen, dass sie Menschen sind und keine Enten. Oder die, in der er ein paar deutsche Punk-Kids fragt, was die Jugend machen soll, wenn die Industrie ihre Kultur monopolisiert. Als diese nur schüchtern die Augenbrauen hochziehen, dreht sich MOORE in die Kamera und sagt: „Ich denke, wir sollten den betrügerischen Kapitalismus zerstören, der die Jugendkultur zerstört durch Massenvermarktung und kommerzielle Paranoia-Manipulation. Als erstes müssen wir die Plattenfirmen zerstören“.

Eindrücke wie diese sind es, die den Film zu einem bedeutenden Zeugnis seiner Zeit machen. Wie keinem anderen ist es MARKEY gelungen, die letzten Augenblicke kurz vor dem weltweiten Erfolg von NIRVANAS zweitem Album Nevermind einzufangen.

Links: dave markeys tour-tagebuch