Gespräche

2012 war ein gutes Jahr für NADINE AND THE PRUSSIANS. Gemeinsam mit DIE-TÜREN-Bassist RAMIN BIJAN und WHITEST-BOY-ALIVE-Produzent NORMAN NITZSCHE spielten sie ihre erste EP ein, CHRISTIANE RÖSINGER ließ sie in ihrer sagenumwobenen FLITTCHENBAR auftreten und auch in den Medien hat das Popduo einige Beachtung gefunden. Sie alle haben Recht. NADINE FINSTERBUSCH und BRUNO BAUCH haben ein paar großartige Popsongs geschrieben, die eine unwiderstehliche Leichtigkeit versprühen. Eine tolle Liveband sind die beiden MusikerInnen aus Berlin und Dortmund obendrein. Ausruhen wollen sich NADINE und BRUNO auf diesen ersten Erfolgen allerdings nicht und haben für 2013 bereits weitere Pläne geschmiedet: Die EP soll veröffentlicht, die Band erweitert und die erste große Tour in Angriff genommen werden. Im Interview mit CARTOUCHE sprach das Duo über sein Erfolgsjahr, seine Gründungsgeschichte und seine Zukunft.

NADINE, BRUNO, ihr beide kommt ursprünglich aus Dortmund. Wie seid ihr mit Musik in Berührung gekommen?

NADINE: Das ist schwer einzugrenzen. Prägend war sicherlich, dass ich im Kinderchor gesungen habe. Dort habe ich neben Kinderliedern eine Menge Popsongs kennen gelernt, BEATLES, TAKE THAT und so Sachen. Das Fernsehen spielte aber auch eine wichtige Rolle. Ich habe viel MTV und VIVA II geguckt. Eines Tages sah ich dort einen Auftritt von BJÖRK. Ich war überwältigt und beschloss, genauso zu werden wie sie.

BRUNO: Bei mir lief das hauptsächlich über die Familie. Meine Eltern hatten eine große Plattensammlung, mein Bruder ist Musiker.

Und wie habt ihr euch kennen gelernt?

NADINE: Während einer Klassenfahrt nach Norderney. BRUNO und ich gingen damals in dieselbe Klasse. Während die anderen in einer norddeutschen Dorfdisko tanzen waren, blieben wir in der Herberge und spielten Musik. An dem Abend schrieben wir auch unseren ersten Song »Jacket with my Pocket«. Das war 1996. BRUNO war 15 und ich 16 Jahre alt.

BRUNO: Danach haben wir eifrig weiter gemacht. NADINE kam nach der Schule oft mit zu mir. Ganze Nachmittage haben wir in meinem Zimmer gesessen und Songs geschrieben. Unsere erste Band nannten wir THE POSH KIDS. Wenig später gründeten wir mit ein paar Freunden LORKA, mieteten einen Proberaum, nahmen ein Album bei einem kleinen Label auf und spielten eine ganze Reihe Konzerte in Nordrhein-Westfalen.

Gibt es in Dortmund so etwas wie eine Musikszene?

BRUNO: Zumindest haben viele Leute eine Band, das sind allerdings eher so Profi-Mucker, die Jazz spielen oder Metal. Ein paar gute Konzerträume hat die Stadt auch zu bieten.

NADINE: Wir haben aber nirgendwo richtig reingepasst mit unserer Musik, deshalb waren wir auch nie Teil einer Szene.

Ihr macht schon so lange Musik zusammen. Wird das nicht irgendwann langweilig?

BRUNO: Ganz im Gegenteil. Nach all der Zeit verstehen wir uns fast blind. Es ist schon ein bisschen unheimlich, dass wir von der Ästhetik her immer in dieselbe Richung gehen.

Wann habt ihr THE PRUSSIANS gegründet?

NADINE: Das war 2007, kurz vor meinem Umzug nach Berlin. Ich sollte ein Konzert spielen, hatte aber keine Band mehr, weil LORKA zu der Zeit schon lange nicht mehr existierte. Allein auftreten wollte ich aber auch nicht. Ich suchte also nach Mitmusikern. Wenig später saß ich bei BRUNO in der Küche und schrieb mit ihm an neuen Songs. Es war direkt wieder wie früher.

Euch gibt es also schon seit fünf Jahren!?

BRUNO: Genau. Mein Job und die große Distanz zwischen Berlin und Dortmund haben verhindert, dass ich mehr Zeit und Energie in die Band investieren konnte. Deshalb hatte das Projekt eine lange Anlaufphase.

NADINE: Wir haben am Anfang viel mit der Besetzung herumexperimentiert. Mal waren wir mehr, mal weniger. Eine Zeit lang bin ich sogar ganz allein aufgetreten.

Wann kam die Wende?

BRUNO: Ende 2011, als ich merkte, dass mir die Musik sehr wichtig ist. Ich habe meinen Job gekündigt und bin jetzt viel öfter in Berlin. Ganz nach Berlin ziehen kann ich aber nicht. Ich bin Grafikdesigner, die Konkurrenz hier ist einfach zu groß.

NADINE: BRUNO musste geahnt haben, dass sich bald tolle Gelegenheiten für uns ergeben sollten.

Was für Gelegenheiten waren das?

NADINE: Wir haben unsere erste EP aufgenommen. Mit RAMIN BIJAN von den TÜREN.

Wie ist diese Zusammenarbeit zustande gekommen?

NADINE: Ich arbeite in einer Kantine in Kreuzberg, an die Kreativ- Büros, Ateliers, Proberäume und Tonstudios angeschlossen sind. Die Leute, die dort arbeiten, essen regelmäßig bei uns. RAMIN ist einer von ihnen. Irgendwann kamen wir dann ins Gespräch. Und als ich für einen Freund einen Song zu einem Festival in Graz beisteuern sollte, fragte ich RAMIN, ob er mir helfen wolle. Er stimmte zu und die Arbeit lief so gut, dass ich ihn bat, unser Demo abzumischen. Er hörte sich die Songs an und fand sie so gut, dass er vorschlug, sie noch einmal mit einer Band neu aufzunehmen. Das war Ende November 2011. Im Februar 2012 sind wir dann ins Studio gegangen.

Wer war noch alles an den Aufnahmen beteiligt?

NADINE: SEBASTIAN von JA PANIK, LEO AURI von THE SAY HIGHS und NORMAN NITZSCHE. Was SEBASTIAN für uns am Schlagzeug gespielt hat, war großartig. Eine Freundin hat uns einander vorgestellt. LEO hat die Pianos und Keyboards eingespielt. NORMAN schaute am ersten Tag der Sessions vorbei, weil er mal in unsere Musik reinhören wollte. Am nächsten Tag kam er wieder und blieb dann bis zum Schluss. Alle Beteiligten haben lauter tolle Ideen beigetragen, es war eine super Zusammenarbeit.

BRUNO: Insgesamt haben wir sechs Songs mit Band aufgenommen und drei Songs zu zweit. Nach circa einem Monat waren wir fertig.

Und wie geht es jetzt weiter?

BRUNO: Wir wollen unsere Band erweitern. Nicht mehr nur zu zweit auftreten wie bisher, sondern mit mehr Leuten. Auch wenn das mit den Loops sehr viel Spaß macht und wir als Duo super funktionieren.

NADINE: Die aufgenommen Songs auf CD oder Vinyl zu veröffentlichen wäre ebenfalls toll. Ein Video haben wir ja schon. Auf Tour zu gehen ist ein weiteres großes Ziel!

Ihr wollt also Ernst machen.

BRUNO: Richtig. Wir sind gerade unglaublich produktiv, haben viele Songideen. Vielleicht war diese Ruhephase am Anfang des Projekts doch ganz gut. So konnten wir unsere Energie sammeln.

NADINE: Seit diesem Glück mit den Aufnahmen passieren immer mehr tolle Sachen. Wir haben das Gefühl, dass wir jetzt etwas mehr Aufmerksamkeit bekommen. Auch in Wien haben wir im letzten Jahr gespielt, einer der Höhepunkte 2012.

Wie würdet ihr eure Musik beschreiben?

NADINE: Ich sage immer, wir machen Popmusik.

BRUNO: Wir sind heute wesentlich eingängiger als früher. Nicht mehr so vertrackt.

Was sind eure Einflüsse?

NADINE: BEACH HOUSE und BJÖRK zum Beispiel. BEACH HOUSE haben uns bestärkt, unser Ding weiter zu machen, schließlich sind sie auch ein Duo. Ihre Songs haben eine tolle Stimmung. Bei BJÖRK hat mich ihre Art, an Gesangsmelodien heranzugehen, sehr beeinflusst. Obwohl unsere Melodien eingängiger sind.

NADINE, wenn du nicht Musik machst, liest du aus deinen alten Tagebüchern vor, wie bist du auf diese Idee gekommen?

NADINE: Ich habe meine Tagebücher bei einem Umzug gefunden. An die meisten Sachen konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, fand es aber lustig, mich wieder damit auseinander zu setzen. Eigentlich wollte ich es dann nur meinen Freunden vorlesen. Letzten Endes wurde aber doch eine größere Sache draus. Unter anderem habe ich zweimal beim 100°-FESTIVAL im HAU gelesen, in Basel, Wien, Dortmund, Hamburg und Würzburg. In der Schweiz gab es sogar einen kurzen Fehrnsehbericht über die Lesung. Wow!

Du warst also nicht peinlich berührt von deinem früheren Ich?

NADINE: Nein, ich lache eher darüber.

BRUNO: Es ist echt schade, dass das Tagebuch genau dann endet, wenn wir uns kennenlernen.

Gibt es eine Anekdote, die du besonders magst?

NADINE: Meine Lieblingsstelle ist die, in der ich ein Drehbuch für einen Film verfasse mit dem Titel: „You are my Babe“. Die Hauptrolle spielen ich und MARK OWEN von TAKE THAT, in den ich damals verliebt war. Die Handlung ist unabsichtlich abgekupfert von Bodyguard, vor allem die Szene, in der ich wie WHITNEY HOUSTON am Ende in den Jet einsteige und zurück renne und MARK mir daraufhin sagt, dass er mich liebt. Am Ende heiraten wir bei den MTV EUROPEAN MUSIC AWARDS und kriegen Zwillinge. Wir gehen gemeinsam auf Tour, ich bringe meine Soloplatten raus und spiele als Vorgruppe von TAKE THAT. Das ist so gut, das müsste man verfilmen.

Ihr beiden seid inzwischen ja auch schon älter als dreißig. Kann man zu alt werden für Popmusik?

NADINE: Ich fühle mich nicht wirklich alt, mir wird auch immer gesagt, ich sähe aus wie 26!

BRUNO: Ich glaube, das ist eher umgekehrt. Schau dir SONIC YOUTH an. Obwohl die über 50 sind, ist ihre Popularität ungebrochen.

NADINE: Genau. Ich würde noch immer alles dafür geben, einmal mit THURSTON MOORE ausgehen zu können.

Mit 30 hört das Leben also nicht auf?

BRUNO: Auf keinen Fall. Ich kenne mehrere Leute in meinem Alter, die gerade ihre Jobs gekündigt und sich selbstständig gemacht haben.

NADINE: In Berlin ist das ja auch eigentlich kein Thema. Wie heißt es in diesem Schlager so schön: „Das Alter ist nur eine Zahl“.

Links: Homepage / Tagebuch NADINE

Fotos: MATTHIAS HEIDERICH

Empfehlung

A  VERY SPECIAL CHRISTMAS, NOW & THEN

Was würde sich als Analysegegenstand des Mainstreams besser eignen, als eine hochwertige Weihnachtskompilation, deren Erfolgsgeschichte mittlerweile drei Dekaden umspannt? Geboren in den tiefsten Achtzigern, bildet A Very Special Christmas seither das Spektrum der zeitgenössischen Moden ab und hat in mittlerweile sieben Teilen einen Erlös von über 100 Millionen US-Dollar zu wohltätigen Zwecken eingespielt. Mehr als jede andere Benefizaktion der Musikindustrie. Wir messen die aktuelle an der ersten Ausgabe und stellen mit wissenschaftlicher Nüchternheit die bahnbrechende These auf: Manches war früher einfach besser.

Die Marke A Very Special Christmas ist eine Erfindung von JIMMY IOVINE, Musikproduzent und gläubiger Katholik, der seinem verstorbenen Vater mit einem Weihnachtsalbum die letzte Ehre erweisen wollte. IOVINES Frau VICKI entwickelte 1987 die Idee eines Benefizalbums für die Paralympics. Alle waren begeistert, die Plattenbosse von A&M griffen tief in ihre Taschen, der nicht ganz jugendfreie Künstler KEITH HARING lieferte das Artwork. Auf der ersten Scheibe von ‘87 stehen große Namen: SPRINGSTEEN, PRETENDERS, MADONNA, RUN DMC, STEVIE NICKS, WHITNEY HOUSTON, BRYAN ADAMS und U2.

A Very Special Christmas entstand zu einem Zeitpunkt, als die Musikindustrie einen wirtschaftlichen Strukturwandel durchmachte. In der Süddeutschen Zeitung verortet JOHN MELLENCAMP diesen Prozess mit seiner Kulturkritik der Musikindustrie in die Periode der späten Achtziger und frühen Neunziger. „Plattenfirmen betrachteten sich auf einmal nicht mehr als Vermittler von Musik, sondern als Teil der Wallstreet-Manipulatoren. Firmen wurden übernommen, fusioniert, verkauft – Börsengänge folgten.“ Klangmaterial und Produktionsrahmen von A Very Special Christmas waren davon anfangs nicht betroffen, die ersten zwei Teile der Serie entstehen noch im ancien regime (MELLENCAMP ist übrigens auf Nummer Zwei zu hören). Auf welche Weise die sich ändernden wirtschaftlichen Parameter der Maschine Mainstream mit der Musik rückkoppeln, lässt sich an den späteren Ausgaben von A Very Special Christmas sehr gut abhören.

Um den Vorwurf der Unfairness gleich auszuräumen – die Verkäufe haben zwar nachgelassen, doch noch immer ist eine Menge Geld im Spiel und das Format lebt. Compilations wie Bravo oder Thunderdome gehen immer wieder, jede Generation scheint aufs Neue das Bedürfnis nach Weihnachtsliedern in der verpoppten Darbietung ihrer Contemporaries zu haben. Gerade erst bog THE BIEBER mit „Under the Mistletoe“ um die Ecke.

 SUPERSTARS VS MEGASTARS

Wie schneidet das mit Vierfach-Platin ausgezeichnete Original von 1987 nun gegen den neuesten Teil von 2009 ab? WHITNEY HOUSTON war fresh. RUN DMC sowieso. Das restliche Angebot reichte von alten Hasen wie STEVIE NICKS bis BRUCE SPRINGSTEEN. An ihrer Markttauglichkeit, die PRETENDERS waren seit 10 Jahren im Geschäft, gab es keinen Zweifel. NICKS steuerte zu FLEETWOOD MACS Monsteralbum Rumours aus dem Jahr 1976 mehrere Hits bei, SPRINGSTEENS großer Durchbruch gelang sogar ein Jahr früher mit „Born To Run“. NICKS und SPRINGSTEEN erlangten den Weltruhm gleichermaßen nicht über Nacht. Sie waren keine Sternchen oder Gelegenheitsjobber, angespült aus anderen Entertainmentsparten, um zum richtigen Zeitpunkt der Idee eines Marketingstrategen ihr menschliches Gesicht zu verleihen. Vielmehr hatten sie sich an den überaus intakten Durchlässigkeitsfiltern des Mainstream vorbeigekämpft. Was noch bemerkenswerter ist: Mit Ausnahme ALISON MOYETS sind sämtliche Künstler von damals noch immer erfolgreich im Geschäft. Eine Vielzahl von ihnen hat das Management längst selbst übernommen, sofern sie jemals fremdgesteuert waren. 1987, das war vor 25 Jahren.

Heute reden wir über den Niedergang der Musikkultur. Da, wo das Big Business verhandelt wird, ist für den Aufbau von langfristigen Karrieren keine Risikobereitschaft mehr vorhanden. Popularität speist sich aus einer mehrkanaligen Sichtbarkeit, die zumeist viel Geld kostet. Klar, dass auf der siebten Compilation von 2009 die Kindertraumtotengräber MILEY CYRUS, ASHLEY TISDALE und CARRIE UNDERWOOD ihre überzogenen Koloraturen einsingen durften. Wir kennen sie aus Funk und Fernsehen. Kein Plattenboss hätte WHITNEY HOUSTON neben diese Disneyfiguren platziert, es wäre zu viel der Scham gewesen, zu offensichtlich die gesangliche Überambition der Epigonen neben der maßvollen Dramaturgie des Originals. Nun macht Houstons früher Tod diese Gegenüberstellung unmöglich.

 SOUND

Die Eskalation und Überreizung der gesanglichen Stilmittel findet ebenso ihren Wiederhall im Technischen. JIMMY IOVINE, dieser große Produzent, überwachte die klangliche Konsistenz der ersten zwei Alben von ‘87 und ‘92. Als Assistent drehte er bei den letzten Aufnahmen von JOHN LENNON an den Reglern und produziert heute für JAY-Z. Kaum einer bewegt sich so leichtfüßig zwischen den Genres wie IOVINE. Wenig verwunderlich, dass A Very Special Christmas experimentelle Momente hat. Da sind die irritierenden Dissonanzen im Intro zu „Winter Wonderland“, bevor ANNIE LENNOX ihren seidenen Guttural hineingibt. Auch der Text des Weihnachtsliedes ist hier ironisch abgewandelt. Oder dort, die Background-Girls bei JOHN COUGAR MELLENCAMP verfallen am Ende von „I saw Mommy kissing Santa Claus“ in die Stimmlage pubertierender Weihnachtsengel. Zum Schießen. Die Kompilation von 2009 bietet dergleichen nicht.

 SONGS

„Christmas (Baby Please Come Home)“ ist auf beiden Platten vorhanden, damals in der Einspielung von U2 versus LEIGHTON MEESTER im Jahr 2009. „Leighton who?“, werdet ihr fragen. Eigentlich als Darstellerin aus der Serie Gossip Girl bekannt, reüssiert sie hier zum ersten Mal als Sängerin, ist neben CYRUS, TISDALE und VANESSA HUDGENS das vierte Fernsehdarling auf der aktuellen Kompilation. Wo BONO tapfere Inbrunst aufzubringen vermag und das Produzententeam den ollen Song zur dramatischen Rocknummer aufbläst, herrscht bei MEESTER vollkommene Langeweile samt Radiosound. Der subtile Shuffle von LARRY MULLEN wird in der Neufassung durch einen das Chinabecken grob durchdreschenden Retortendrummer ersetzt, der Leadsynth verkündet lauthals seine En Vogueness. BONO ist den Tränen nahe, seine Trauer kommt von Herzen – wenn er beim Einsingen der triefenden Lines an verhungernde Aidskinder dachte, ist uns das einerlei. Der Zweck heiligt alle Mittel. Umnebelt von Autotune versucht MEESTER erst gar nicht, aus ihrem Sprechstimmumfang emporzusteigen, raunt uns ihren Text etwas unbeholfen-lasziv ins Ohr.

Wie Sex wirklich geht, machte MADONNA 1987 mit „Santa Baby“ vor. Bestimmt hat sie den rotbemützten Pummel später vernascht und Millionen Kids um ihre Geschenke gebracht. Ach, und die Streicher ergehen sich in kontrapunktischer Opulenz, Bögen von warmer Kompression strömen durch die Kanister. All Killer, no filler? Nein, zwei drei Nummern sind furchtbar. Zum Beispiel der Folkbarde BOB SEGER mit „Little Drummer Boy“. Wir sehen es ihm nach, er hat das kurze Streichholz unter den Weihnachtsliedern gezogen. ALISON MOYET wagt mit „A Coventry Carol“ eine Barocknummer in Acapella. Das erfordert Mumm, alle Achtung. Aber auch in diesen Entgleisungen äußert sich noch die gesunde Risikobereitschaft.

„Es ist ja nicht so, dass die Menschen Musik nicht mehr lieben. Es ist nur die Art, wie sie angeboten wird, die nicht mehr viel Menschliches hat“, schreibt MELLENCAMP. Kulturpessimismus? Mitnichten, der alte Mainstream hat so viel populäre Hochkultur produziert, dass wir davon noch lange zehren können. Wer braucht schon ein weiteres Weihnachtsalbum, wenn es A Very Special Christmas in der ersten Ausgabe von 1987 gibt.