Tanzen

cartouche_210913_web

CARTOUCHE RELEASE PARTY / 21. SEPTEMBER 2013 / NAHERHOLUNG STERNCHEN / BEROLINASTRASSE 7 / 20:30UHR / EASTER (LIVE) / LOOD MAHAMOTI (LIVE) / ALEXANDER WINKELMANN (LIVE) / AA..LL (LIVE) / WARREN O (DJ) / ONLINE BANKING (DJ) / DON’T PANIC BERLIN (DJ) / SHAMELESS/LIMITLESS (DJ) / NO FEAR OF POP (DJ) / SPEX (DJ) / EINTRITT: 6-8 EURO

Links: Facebook-Event / Easter / Lood MahamotiAlexander Winkelmann / AA..LL / Warren O / Don’t Panic Berlin / Shameless/LimitlessNo Fear of Pop / Spex

(Flyer: MARIUS WENKER)

Portrait

150022_4837989543537_183977391_n-1

REGINA WEBER – Eine Modedesignerin mit Fernweh

Eine Küche irgendwo in Neukölln. REGINA WEBER sitzt mit ein paar Freund_innen am Tisch und erklärt den Unterschied zwischen den verschiedenen japanischen Schriftzeichen-Systemen. „Davon gibt es drei, sie kommen jeweils in anderen Bereichen zur Anwendung“, sagt sie lächelnd durch die schwarz umrandete Brille, die sie seit neuestem trägt. Die braunen Haare hat sie wie immer zum Zopf gebunden, am Rand ihres unteren Augenlides hat sie sich mit schwarzem Kajal einen Punkt gesetzt. Sprechen kann sie die Sprache auch schon ganz gut: „千里の道も一歩から。“. Der deutsche Akzent ist fast gar nicht rauszuhören. Warum sich die aufstrebende Mode-Designerin so gut mit dem Japanischen auskennt? Ganz einfach: Ab September wird sie dort ein Jahr studieren.

Es ist genau dieser Durst nach Neuem, diese Reiselust, die REGINA WEBER auszeichnet. Wann immer sie kann, packt sie ihre Koffer, um die Welt zu entdecken. So bereiste sie bereits den Nahen Osten, Zentralasien bis Fernost: China, Neuseeland, Oman, Tibet, Georgien, Nepal, Usbekistan und Sri Lanka. Direkt nach dem Abitur verbringt die Designerin aus Bayern jedoch erst einmal ein Jahr in Shanghai, bevor sie sich in Berlin niederlässt, um hier Chinesisch zu studieren. Nach zwei Semestern wirft sie jedoch hin. Der Grund: Sie will etwas anderes machen, genauer, zu ihrem eigentlichen Plan zurückkehren. „Im Herzen trug ich immer noch den Wunsch etwas mit Mode zu machen“, erzählt sie wenig später am Abend im Zwielicht einer Kerze. REGINA ist schon seit ihrer Jugend klar, dass Mode ihr Metier ist. Es ist der Schaffensprozess, der sie begeistert – ein selbstgemachtes Produkt in den Händen zu halten, etwas zu schaffen, an dem jemand Freude hat. Anfangs zögert sie noch diesen Weg einzuschlagen, doch als sie eines Tages eine Jacke des bulgarischen Designers VLADIMIR KARALEEV im Concept-Store APARTMENT erspäht, ändert sich das schlagartig: „Ich war hin und weg von der abgefahrenen Jacke“, berichtet sie. Vor allem fasziniert sie die Ästhethik des Designers, der seine Kleider nicht anhand einer Skizze fertigt, sondern sie im Orginalstoff an der Puppe drapiert.

Doch nicht nur die Leidenschaft für Mode wird durch das Kleidungsstück neu entfacht. Zugleich fasst sie an diesem Nachmittag den Entschluss für VLADIMIR zu arbeiten. Nach unzähligen Anrufen und Emails, fängt sie schließlich im Herbst 2010 als Assistentin bei dem Designer an. Sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für den Job aussuchen können: Es ist die Zeit vor VLADIMIRS großem Durchbruch. Heute zählt er zu den angesagtesten Berliner Designern. Von Beginn an wurde ihr viel Verantwortung übertragen: Innerhalb von drei Wochen stellt Regina zusammen mit dem Designer eine Modenschau bei der MERCEDES BENZ FASHION WEEK auf die Beine. Und das ohne jegliche Erfahrung. „Aber so arbeitet VLADIMIR nun mal“, sagt REGINA. Sie ist mittendrin, näht die Nächte durch, lernt Tag für Tag die Wichtigsten des Modezirkus kennen und hat so viel Adrenalin wie noch nie im Blut. Das ist genau das, was sie machen will. „Ich konnte das alles gar nicht fassen“, sagt sie mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck.

VLADIMIR ist jedoch erst der Anfang. Außerhalb des Ateliers arbeitet REGINA an ihrer Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule Weißensee, an der sie nun seit drei Semestern Modedesign studiert. Ihr Talent spricht sich rasch herum, SISSI GOETZE heuert sie als Assistentin an. Von körperumhüllender Frauenmode eines VLADIMIR KARALEEV wagt REGINA den Schritt zu formvollendeter, perfekt geschnittenen Männerdesigns, die ihr einen anderen Blick auf die Mode ermöglichen. SISSI ist jedoch weit mehr als nur ihre Chefin. Sie ist eine wichtige Mentorin, als REGINA sich an ihre eigene Kollektion wagt. Die Fragen „Wie sieht meine eigene Mode aus?“ und „In welche Richtung soll es mit meinen eigenen Designs gehen?“ stehen schon länger im Raum und als VLADIMIR, selbst in den Ferien in Italien, REGINA das Studio für drei Wochen zum Arbeiten überlässt, scheint der Zeitpunkt genau richtig. Es ist Hochsommer und das Studio in der Leipziger Straße, aufgeheizt wie eine Sauna, ist nur bei Nacht erträglich zum Arbeiten.

mode 6

Die ersten Entwürfe enstehen, doch Regina wird ihren Ansprüchen noch nicht gerecht. Zu ähnlich sind die Designs denen VLADIMIRS. Nach und nach gelingt es ihr jedoch, ihre eigene Note herauszuarbeiten und in zweieinhalb Wochen entstehen fünf Oufits, die ihre persönliche Handschrift tragen. Im Zentrum stehen Strukturen. Ungewohnte Materialien inspirieren sie und so werden Putzlappen, Fahrradschläuche und ein einem Duschvorhang ähnlicher Stoff in die Entwürfe integriert und verfremdet. Von Weitem nimmt der Fahrradschlauch die Charaktereigenschaften von Leder an, erst auf den zweiten Blick erkennt man das eigentliche Material. Ein Kleid sticht aus der Kollektion besonders heraus. Eine selbstgefertigte Wachsstruktur wird auf weißen Stoff appliziert und mit einer transparenten Hülle verschleiert. Es ist ein Kleid, so einzigartig schön, dass es einem die Sprache verschlägt. „Den eigenen Stil zu finden ist eine große Herausforderung“, sagt REGINA ernst. Doch wie immer meistert sie diese Aufgabe bravourös.

Neben all diesen einmalig tollen Erfahrungen hat REGINA auch die Schattenseiten des Modebetriebs kennengelernt: Den Modekritikern mangelt es oftmals an Respekt. Zwar dauert eine Show meist nicht länger als 15 Minuten, doch steckt sehr viel Arbeit dahinter, einige 80-Stunden-Wochen inklusive. „Mode ist kein Spaßding und kann schnell an die Substanz gehen“, sagt REGINA. Genau das wird häufig vergessen, wenn leichtfertig Kollektionen verrissen werden. „In Deutschland gibt es nicht genügend Wertschätzung für Mode“, erklärt sie während sie Wein in ihr Glas schenkt. Ihre Nägel glitzern vom goldenen Lack. Dies ist auch einer der Gründe, warum junge Modedesigner von einem unbezahlten Praktikum ins nächste fliehen, es fehlt die Anerkennung. REGINA weiß wovon sie spricht, sie hat das alles am eigenen Leib erfahren.

Dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen und will auf jeden Fall weitermachen. All die Erfahrungen, ob gut oder schlecht, haben sie geprägt. Wohin die Reise gehen wird, steht noch offen. „Alles ist möglich“, sagt die Designerin. Wahrscheinlich wäre zu viel Gewissheit auch langweilig für einen Menschen wie REGINA. Eins steht aber sicher fest: Die Mode wird es sein. Erstmal heißt die nächste Station jedoch: Japan!

MARIE-THERESE HAUSTEIN bekommt bei „Whiskey Sour“ von MOLLY NILSSON Gänsehaut und überquert ab Ende Februar jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit die Seine.

(Foto: FALKO SAALFELD)

No Fear Of Pop empfiehlt:

Old_apparatus_cover_1

OLD APPARATUS – Derren EP / Realise EP / Alfur EP / Harem EP

Es ist nicht ganz klar, wann die Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Aber ach, was sind wir es leid. Wahrscheinlich fing es nicht an mit BURIAL; war es BANKSY? Egal. Was die Musik betrifft, so erscheint es am einfachsten, die Ursache wie üblich ‚im Internet’ zu verorten. Gewiss ist jedenfalls: Jemand sollte all den jungen Produzenten einmal mitteilen, dass die Sache sich erledigt hat, dass alles zumeist nur noch wie ein müder Abklatsch eben jenes BURIAL wirkt: Künstlerische Anonymität.

Sie macht natürlich, ganz oberflächlich betrachtet, viele Dinge einfacher, und gelegentlich scheint sie sogar unumgänglich, und ohne Frage hat die virtuelle Welt vieles in dieser Hinsicht erst ermöglicht mit ihren ungezählten unbeleuchteten Ecken, den Foren und Newsgroups, der Pornografie und der Kriminalität, und natürlich der Aufklärung, betrachtet man sie nun als tatsächlich oder als nur vorgeblich: ANONYMOUS wäre nichts ohne das Internet; eine GUY-FAWKES-Maske allein schützt nur schwerlich vor staatlichem Zugriff. Von Letzterem abgesehen aber dient Anonymität zumeist einem gänzlich anderen Zweck: Sie stellt ein bequemes Mittel bereit zur kognitiven Verantwortungsverschiebung. Ist mein Alter Ego erst einmal etabliert, so eröffnet sich die Möglichkeit, die Persönlichkeit zu spalten; nicht ich habe es getan, sondern der/die/das Andere, das zugleich Ich und nicht Ich ist. Man frage einmal nach bei der Kriminalpsychologie.

Old_apparatus_photo

In der Musik jedoch funktioniert dies nur bedingt, und deshalb erstaunt es umso mehr, dass es in den vergangenen Jahren fast schon zur Normalität geworden ist, jedenfalls abseits des Mainstream, mit Werken konfrontiert zu werden, deren Urheberschaft bewusst im Unklaren gelassen wird. Man könnte versucht sein, diesen Trend positiv zu deuten, denn Anonymität könnte ja auch den Verzicht auf jegliche Eitelkeiten heißen; zumeist ist es jedoch lediglich der Versuch der Immunisierung gegen Kritik. Häufig heißt es, man bleibe lieber verborgen, damit sich der Kritiker/Hörer nicht mit der Person auseinandersetze, sondern allein mit der Musik. Aber das ist natürlich Blödsinn. Allzu leicht passiert das genaue Gegenteil; nicht die Musik wird zum Mittelpunkt des Diskurses, sondern die Suche nach der Person hinter dem Werk.

Das Konzept anonymer Urheberschaft in der Musik funktioniert dann und nur dann, wenn das geschaffene Werk tatsächlich Eigenständigkeit gewinnt; wenn es den Autor in gewisser Hinsicht transzendiert und dieser somit im Grunde bedeutungslos wird. Das gewählte Pseudonym wird zum ‚Autor’. Bei BURIAL ist genau das der Fall; es fällt wohl kaum jemandem auf Anhieb der wirkliche Name ein, so er denn überhaupt stimmt; die Kritik feiert BURIAL, nicht WILLIAM BEVAN, dessen künstlerische Sprache so erhaben ist und unverkennbar einzigartig, dass die Idee singulärer Urheberschaft, etwas doch schlicht Menschliches, hinter solch unwirklicher Musik fast zu banal erscheint. Aber ein solcher Triumph des Werkes über den Autor ist die absolute Ausnahme, nicht die Regel.

Old_apparatus_cover_4

Allerdings, manchmal gelingt es eben doch, und ein Beispiel ist das britische Künstlerkollektiv OLD APPARATUS. Gegründet 2010 und zunächst in Erscheinung getreten mit Veröffentlichungen auf MALAS Label DEEP MEDI MUSIK, hat sich das Londoner Quartett im vergangenen Jahr durch die Gründung des eigenen Labels SULLEN TONE, das ausschließlich der Veröffentlichung ihrer eigenen Platten gewidmet ist, gänzlich vom gewohnten britischen Musikzirkus entfernt. Was das Konzept künstlerischer Anonymität angeht, gehen OLD APPARATUS dabei in gewisser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter als BURIAL, und erstaunlicherweise scheitern sie dabei nicht. Nicht nur die tatsächlichen Namen der Mitglieder bleiben verborgen hinter Pseudonymen, sogar diese Künstlernamen selbst gehen auf im Kollektiv: drei der vier EPs, die 2012 auf SULLEN TONE erschienen sind – Derren, Realise, Alfur und Harem – wurden jeweils komplett von einzelnen Mitgliedern geschrieben, vertont, und produziert; nur bei der ersten, Derren, handelte es sich um eine genuine Gemeinschaftsarbeit. Trotzdem erschienen sämtliche Platten unter dem Namen OLD APPARATUS; der Beitrag des Einzelnen geht auf in der Identität des Kollektivs. Hinzu kommt eine bis ins Detail ausgearbeitete, kohärente Gesamtästhetik, die auch zum Ausdruck kommt in den Videos, der Gestaltung der Plattencover, der Website, bei der Visualisierung der Live-Auftritte: Alles wird ohne Unterscheidung der Entität OLD APPARATUS als Urheber zugewiesen.

Musikalisch war das Quartett aufgrund der frühen Verbindung zu MALA allzu schnell im Dunstkreis von Dubstep abgeheftet worden, was schon bei den frühen Releases höchstens oberflächlich überzeugen konnte. Spätestens seit dem Wechsel zum eigenen Label und der Verfestigung der künstlerischen Vision ist eine solche Klassifizierung jedoch Makulatur. Die Stücke von OLD APPARATUS nehmen alles auf, von Post-Rock über Hip-Hop und R&B zu Noise und Industrial, mit zahllosen Referenzen, die auf eine intensive Beschäftigung mit dem gesamten Kanon vorwärtsgewandter britischer Musik der vergangenen 25 Jahre schließen lässt; mit einem besonderen Augenmerk auf Trip-Hop, den Katalog einflussreicher Labels wie WARP oder NINJA TUNE, und, ja, selbstverständlich auch frühem Dubstep. Es ist, auf den Punkt gebracht, Musik, die so nur im Vereinigten Königreich, ja wahrscheinlich sogar nur in London überhaupt denkbar erscheint.

Old_apparatus_cover_3

Die vier EPs unterscheiden sich dabei durchaus beträchtlich. Die einzelnen Producer kommen aus teilweise fast schon gegensätzlichen musikalischen Richtungen, und diese Prägungen finden direkten Niederschlag im Sound. Während das gemeinsam geschaffene Werk Derren noch am ehesten im Post-Dubstep zu verorten ist, insbesondere das dritte Stück, „Dealow“, schielen die Texturen der zweiten EP Realise eher in Richtung einer gebrochenen, desillusionierten Vision des Dancefloor: Man kann hierzu wahrscheinlich tanzen, wenn man bereit ist, alle Hoffnung fahren zu lassen. In der klaustrophobischen, dystopischen Suite des finalen Titeltracks findet die Tetralogie ihren ersten Höhepunkt. Alfur vereint den WARP-Katalog mit zahlreichen Referenzen zum Post-Rock, und weist mit dem Fabeltrack „Schwee“ die wahrscheinlich einzige perfekte ‚Single‘ des Kollektivs auf. Mit Harem schließlich findet die Reise ein geradezu sublimes Ende mit der für sich genommen wohl stärksten EP; die Strukturen verflüchtigen sich in ungeordnetem, psychedelisch angehauchtem Ambient, dequantisierte Rhythmen und bedrückende, ausgreifend angelegte Flächen lassen Harem tatsächlich wirken wie das Ende eines drogeninduzierten Trips, dessen Anfang nur noch verschwommen Teil der eigenen Erinnerung zu sein scheint. Das letzte Stück „Octafish“ endet in stiller, kontemplativer Resignation; ein Abschluss, der keine Auflösung bereithält. Jedoch, trotz dieser durchaus beträchtlichen Unterschiede in der Herangehensweise und im Sound, die auf jeder EP deutlich zum Ausdruck kommen, bleibt jeder Track stets unverkennbar ein Werk von OLD APPARATUS, nicht eines einzelnen Mitglieds.

Es ist das so konsequent, so bewusst durchgehaltene Gesamtkonzept, das die Stücke zusammenhält. OLD APPARATUS verkörpern mit ihrer Musik eine selbstverständliche Urbanität; in ihrem Werk kommt, und hier ähnelt ihr Ansatz durchaus dem BURIALs, der Charakter der spätmodernen Stadt zum Ausdruck, wodurch ihre Namenlosigkeit gerade erst sinnhaft wird: der Eklektizismus, die gewollten Brüche und die Mannigfaltigkeit der stilistischen Einflüsse eröffnen einen eigenen großstädtischen Kosmos, die Musik wird zum adäquaten Abbild der Metropole im 21. Jahrhundert. Das Dunkle, Bedrohliche der Musik, die bedrückte und bedrückende Stimmung, die sich durch praktisch alle Stücke als das eine prägende Leitmotiv zieht, verweist dabei auf die Isolation des Individuums, auf seine Entfremdung, wenn man es so betrachten mag; es ist dieser Kontext, der die anonyme Urheberschaft nicht nur konsequent, sondern geradezu unausweichlich erscheinen lässt; und nicht nur deshalb gehörten die vier EPs von OLD APPARATUS zu den faszinierendsten musikalischen Veröffentlichungen des Jahres 2012.

Links: Homepage

HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter NO FEAR OF POP und schreibt auch sonst hier und da über Musik

(Foto & Artwork: SULLEN TONE)

Playlist

AUSTIN BROWN hatte in seinem Leben viele Jobs. Er war Dachdecker, Barkeeper, Tontechniker und Tourgitarrist. All diese Tätigkeiten ging AUSTIN auf dieselbe intellektuelle Weise an. Als Dachdecker las er Wetterkarten und die Sterne, an den Flügen der Vögel konnte er erkennen, ob es sich lohnte, weiter zu arbeiten oder nicht. Bei der Musik sieht das nicht anders aus. Sein Wissen über Frequenzen, Filter, Effekte und Musikinstrumente scheint unbegrenzt. Das ist auch der Grund dafür, dass jede Band umwerfend klingt, bei der sich AUSTIN um den Sound kümmert. Es dürfte also keinen wundern, wenn wir sagen, dass AUSTINS Musikauswahl für die CARTOUCHE PLAYLIST ähnlich intellektueller Natur ist. Oberflächliche Merkmale wie gute Melodien sind für AUSTIN zweitrangig – viel wichtiger sind jene Details, die unerfahrenen Ohren verborgen bleiben. 

ALICE COLTRANE: »Journey in Satchidananda«

Journey in Satchidananda von ALICE COLTRANE ist eine umwerfende Platte. Ich habe sie hunderte Male gehört. Trotzdem hat sie noch immer denselben Effekt auf mich: Ich bin beeindruckt von ihrer intensiven Traurigkeit. Wenn ich diese Songs höre, kann ich mir bildlich vorstellen, wie schwer die Sängerin durch den Tod ihres Mannes JOHN COLTRANE getroffen wurde. Zugleich verfügt die Musik über eine meditative Energie. Hier verschmelzen östliche und westliche Musik-Traditionen: Indische Modi, Rhythmen und Tonleitern werden mit den Mitteln des Jazz interpretiert. Technisch ist die Platte von hoher Qualität – alle Musiker sind Profis. Bassist CHARLIE HADEN, Schlagzeuger RASHIED ALI und Pianist PHARAOH SANDERS hatten vorher mit JOHN COLTRANE zusammengespielt. Das restliche Ensemble bestand aus indischen Musikern. Die Platte ist aber noch aus einem anderen, viel politischeren Grund sehr bedeutend. Der Musikbetrieb war Anfang der 70er Jahre dominiert von Männern. Frauen wurden weder Ernst genommen, noch hatten sie etwas zu sagen. ALICE COLTRANE brach diese Machtverhältnisse auf: Zum einen war sie talentiert und stark, zum anderen bekam sie die besten Musiker des Betriebs. Das war schon etwas Besonderes damals. Zugegeben: YOKO ONO gab es zu der Zeit auch schon, im Gegensatz zu ALICE COLTRANE kann ich mir ihre Musik allerdings nicht anhören.

TALK TALK: »Laughing Stock«

Mit Laughing Stock teste ich bei Konzerten und Aufnahme-Sessions die Boxen. Wenn etwas nicht stimmt, finde ich es mit diesem Album heraus. Einen besseren Testton könnte ich mir nicht vorstellen. Aus Sicht eines Tontechnikers ist das Album nahezu perfekt. Das liegt vor allem an der großartigen Philosophie, die dahinter steckt: Hier trifft Improvisation auf Perfektion. Einerseits hielt man daran fest, dass die erste Performance die beste ist. Zum anderen verwendete man viel Zeit für die Arrangements und den Sound. Manche Songs hatten 200 Gitarrenspuren, aus denen dann die besten herausgesucht wurden. Der Produzent PHIL BROWN verbrachte Stunden damit, das Schlagzeug richtig im Raum zu positionieren. Er schlug auf eine Trommel, wartete bis der Ton abgeklungen war und entschied dann, ob sie so klang, wie sie es sollte. Traf dies nicht zu, bewegte er die Trommel an eine andere Stelle. Dieses Prozedere war notwendig, weil BROWN nur ein Raum-Mikro benutzte. Das Tolle daran ist, dass der Künstler, die Ästhetik und das Gefühl so an erste Stelle rückt. Erst danach kommt die Wissenschaft, deren einzige Funktion darin besteht, diese drei Komponenten zu verstärken. Wenn du mich fragst, wird dieses Album seine Relevanz so schnell nicht verlieren. Ich würde zwar niemals so arbeiten wollen, dennoch ist das Album einzigartig.

SHOGUN KUNITOKI: »Tasankokaiku«

Ich liebe Tasankokaiku für seine mathematische Schönheit. Alles, was du hier hören kannst, sind oszillierende Testtöne und Tremolo-Effekte, die in verschiedenen Taktzahlen gegeneinander laufen. Ich finde es beeindruckend, wie aus den einfachsten Mitteln eine derart komplexe Musik entstehen kann. Was mich an der Platte besonders überrascht hat, ist, dass die Musik sehr viel Gefühl besitzt, obwohl die Signale alle maschinell erzeugt sind und keine Dynamik besitzen. Und dieses Gefühl ist nicht etwa negativ. Ganz im Gegenteil spielt die Band Musik, die positiver nicht sein könnte. Mit nichts weiter als ein paar Testtönen schafft die Band somit das, was in meinen Augen das Schwierigste überhaupt ist: Hymnenhafte Musik zu spielen. Einfach großartig! Im Techno hat niemand je so etwas hinbekommen. Es ist toll, wenn Bands und Musiker verrückte Sachen ausprobieren und sich zugleich wissenschaftlich mit dem eigenen Handwerk auseinandersetzen. Das wird heute viel zu selten gemacht. Dieser musikalische Dilletantismus und der Spaß am Sampling, den alle vor sich her tragen, sind zu einer eigenen Ästhetik geworden, mit der ich nichts anfangen kann. Gebt mir jemanden, der mit einem Eimer einen Technobeat trommelt und dazu singt, und ich werde jubeln. Das und nichts Anderes ist Musik!

Links: AUSTIN BROWN Recordings

(Foto: Elisa Longhi) 

Fragebogen

Wer das Modell PAULINE SCHMIECHEN einmal auf dem Laufsteg oder in einer Fotostrecke gesehen hat, der wird sich auch an die Kleidung, vor allem aber an PAULINE erinnern. Ob es an ihrer Ausstrahlung liegt oder an ihrem Gesicht, ist schwer zu sagen. Eins ist jedoch gewiss: PAULINE sticht heraus. Das haben auch andere erkannt. Vor allem VLADIMIR KARALEEV ließ sie wiederholt für sich arbeiten. Gecastet wurde PAULINE vor drei Jahren an der Kasse eines Modegeschäfts, zur Zeit studiert sie an der Technischen Universität Berlin und wenn sie damit fertig ist, will sie auch weiterhin modeln. PAULINES größter Traum ist es, eines Tages von PETER LINDBERGH abgelichtet zu werden.

Kaffee oder Tee?

Zwei Tassen Kaffee.

Ein Uhr schlafen oder tanzen gehen?

Wir sind in Berlin, da wird nicht geschlafen!

Katzen oder Hunde?

Was genau ist ein Hund?!

Nostalgie oder Futurismus?

Futurismus mit einem Hauch Nostalgie.

Politik oder Partys?

Politik sollte mehr Party sein.

BAUHAUS oder Jugendstil?

BAUHAUS – Quadratisch. Praktisch. Gut.

Digital oder analog?

Alles digital, außer Essen.

Modeblog oder Modemagazin?

Lese weder einen Modeblog noch eine Modezeitschrift regelmäßig…

Runway oder Fotoshoot?

Beides macht Spaß!

Weiß oder schwarz?

Nachts sind alle Katzen grau.

Streifen oder Punkte?

Ich habe beides im Kleiderschrank.

Paris oder New York?

„New York State Of Mind“

Vintage oder Designer?

Designer – wenn das nur nicht immer so teuer wäre…

Chips oder Schokolade?

Ungarische FUNNY FRISCH.

QUENTIN TARANTINO oder WOODY ALLEN?

Ein TARANTINO-Film mit WOODY ALLEN wäre toll!

KATE MOSS oder PETE DOHERTY?

Kann mich kaum entscheiden.

Französische oder amerikanische VOGUE? 

Wenn ich VOGUE kaufe, dann eine italienische Ausgabe.

Girls oder Sex and the City?

Habe Girls noch nie gesehen.

Geschminkt oder ungeschminkt?

Wie ich grade Lust habe.

(Foto: JAI BRODIE)

Tanzen

MOLLY NILSSON / 19. JUNI 2013 / BERGHAIN / AM WRIEZENER BAHNHOF 70 / 20UHR

Gespräche

Leute, vergesst GRIMES, hier kommt DAN BODAN! Der kanadische Musiker hat alles, was man braucht, um es im Popgeschäft weit zu bringen: Stil, Charme und eine großartige Stimme. Von seinen umwerfenden Liedern ganz zu schweigen: Sein Song „Aaron“ zählt definitiv zu den besten Stücken 2012. Das New Yorker Label DFA scheint von den Qualitäten des in Berlin lebenden Sängers ebenfalls überzeugt zu sein, veröffentlichte es doch Ende 2012 die Tracks „Aaron“ und „DP“ auf Vinyl. Und da DAN BODAN wie kein zweiter ein Kind des Internets ist, führten wir unser Interview per Mail. Dort verriet er, dass er sich gern mal von GRIMES stylen lassen würde und eine Vorliebe für STERNBURG-Bier hat. Doch lest selbst, was uns twink_kid92 auf unsere Fragen schrieb.

DAN, deine Songs „Aaron“ und „DP“ sind vor Kurzem auf dem New-Yorker Label DFA-RECORDS erschienen. Wie ist man dort auf dich aufmerksam geworden?

DAN: Die Leute von DFA kennen mich schon seit zehn Jahren. Damals wollten sie einen Remix veröffentlichen, den ich für meinen Freund SANDRO PERRI gemacht habe. Leider ist da nie etwas draus geworden. Dafür sind wir in Kontakt geblieben. 2012 hat DFA sein Versprechen dann endlich wahr gemacht.

Bist du ein Fan von LCD SOUNDSYSTEM? JAMES MURPHY ist ja einer der Gründer von DFA.

Auf jeden Fall! Während meiner College-Zeit durften MURPHYS Songs auf keiner guten Party fehlen.

Von wem handelt dein Song „Aaron“?

AARON gibt es nicht wirklich. Er ist eine fiktive Figur, die von meinen Freunden und mir inspiriert ist. Im Grunde könnte AARON jeder sein, der 27 Jahre alt ist und noch immer keinen richtigen Job hat.

Woher kommst du?

Geboren wurde ich in der Prärie Kanadas, in Alberta. Aufgewachsen bin ich aber in Nova Scotia und Montreal.

Warum bist du nach Berlin gekommen?

Ich brauchte einfach etwas Neues. Vor Berlin habe ich in Prag Kunst studiert. Da ich keine Lust mehr auf mein Studium hatte, packte ich meine Sachen und nahm den nächsten Zug nach Deutschland. Mein erstes Zimmer war eine Abstellkammer. Angeboten hatte es mir ein Typ, den ich kurz nach meiner Ankunft in Berlin in der U-Bahn kennengelernt hatte. Eine Woche lebte ich dort.

Wo wohnst du jetzt?

In Kreuzberg.

Magst du dein Viertel?

Ich liebe es sogar! Ich verbringe viel Zeit am Kotti und gehe oft spazieren. Vorher bin ich immer mit dem Fahrrad gefahren, bis es mir vor Kurzem geklaut wurde.

Was sind deine Lieblingsorte?

Ich mochte das TIMES, als es noch geöffnet hatte. Zur Zeit hänge ich oft im KATER HOLZIG, in der ROTEN ROSE, im KUMPELNEST und im SÜDBLOCK ab. Im SÜDBLOCK gibt es die besten Pastrami-Sandwiches der Stadt.

Gehst du oft feiern?

Und ob. Wahrscheinlich sogar etwas zu viel – meine Knöchel sind ziemlich im Arsch.

Im Video zu „Aaron“ sieht man dich mehrfach mit einer Flasche Bier in der Hand. Trinkst du gern Bier?

Yeah! Am liebsten STERNBURG. Oder AUGUSTINER.

Denkst du, dass Berlin ein guter Ort für Musik ist?

Das kommt ganz drauf an. Wenn es um Livemusik geht, ist die Stadt absolut schrecklich. Es gibt kaum vernünftige Läden und eine sehr kleine Szene. Die Zeiten scheinen sich jedoch zu ändern. Zumindest kommen inzwischen mehr Bands vorbei, wenn sie auf Tour sind.

Seit wann machst du Musik?

Seit ich 13 oder 14 Jahre alt bin. Eigentlich wollte ich immer Comiczeichner werden, doch mit der Pubertät kam alles anders.

Wie lange gibt es DAN BODAN?

Seit ich in Berlin wohne. In Montreal habe ich ebenfalls Musik gemacht, die war aber um einiges lauter. Mein Projekt damals hieß NOOT. Nach meinem Umzug nach Berlin habe ich mich zuerst auf die Kunst konzentriert. Inzwischen schreibe ich wieder Songs. Diesmal aber unter anderem Namen, weil sich mein Sound so verändert hat.

Was sind deine musikalischen Einflüsse?

Meine Freunde und die Musik, die sie mir zeigen. Ich versuche das aber nicht allzu sehr zu analysieren.

Wie würdest du deine Musik beschreiben?

Das kommt ganz auf den Track an. Aber für gewöhnlich versuche ich Musik zu machen, die nach Weltraum klingt, oder wie eine temporäre autonome Zone. Alles ist verrückt und ruhig zugleich. Dennoch funktioniert es. Aber nur, bis der Song zu Ende ist.

Was wäre ein guter Moment, um deine Musik zu hören?

Definitiv, wenn du nach einer halben Flasche Rotwein in emotional aufgewühlter Stimmung vor dem Laptop sitzt, deinen Facebook- und Twitter-Status checkst und dich von den Schlagzeilen des CNN News Feed berieseln lässt.

Wer war der erste Star, in den du verknallt gewesen bist?

JONATHAN TAYLOR THOMAS! lol

Wie findest du GRIMES?

Einfach toll. Vor allem wegen ihres Modestils und der K-Pop-Zitate. Außerdem ist sie eine großartige Produzentin, die mehr draufhat als die meisten Typen in ihrem Genre. Vielleicht produziert sie ja eines Tages einen meiner Tracks oder gibt mir ein paar Styling-Tipps. Das wäre echt cool.

Bist du ein Mode-Fan?

Je nachdem. Ich mag Style und Klamotten. Was ich allerdings nicht ausstehen kann, sind all die komischen Leute, die sich im Modebusiness tummeln.

Gibt es einen Designer, den du besonders magst?

Meine beste Freundin ARIELLE DE PINTO macht tollen Schmuck, NHU DUOUNG finde ich ebenfalls großartig. Ansonsten stehe ich eher auf Sportswear als auf Ready to Wear. Meine Lieblingsmarken sind NIKE, UNDER ARMOUR und STONE ISLAND.

Spielst du gern live?

Auf jeden Fall. Singen hat für mich eine therapeutische Funktion. Was mich allerdings runterzieht, ist, in einer Venue mit schlechter Anlage zu spielen oder mit einem Tontechniker zusammen zu arbeiten, der mich nicht mag.

Ich habe gelesen, dass du oft in Galerien und an anderen untypischen Orten auftrittst?

Das liegt an meinen Kontakten. Ich bin eher in der Kunstwelt zuhause.

Gibt es einen Grund dafür, warum du bei Konzerten ohne Band auf der Bühne stehst?

Ich trete ja nicht immer solo auf. Bei meinen letzten Shows hatte ich immer einen DJ dabei. Ich arbeite auch gern mit anderen Musikern zusammen, dann allerdings nicht in einem klassischen Bandkontext. Ich bevorzuge es, über die Ferne mit ihnen zu kollaborieren, ihnen etwas zu schicken, an dem ich gearbeitet habe, zu sehen, was sie daraus machen, und dann solange daran zu feilen, bis wir es beide gut finden.

Hat die Entscheidung zu einem Solo-Projekt auch finanzielle Gründe?

Es ist sicherlich lukrativer, mit weniger Leuten zu spielen. Viel wichtiger finde ich aber den Nervenkitzel. Wenn du versagst, gibt es keinen, der dir helfen kann.

Würdest du es dennoch vorziehen, eine Band auf der Bühne zu haben als einen Computer?

Ich bin mit der derzeitigen Zweierkonstellation zufrieden. Es ist toll, einen Hype-Man zu haben, der mich unterstützt. Ich kann mich auf meine Performance konzentrieren, während er sich um die Musik kümmert.

Wann erscheint dein erstes Album?

Hoffentlich bis Mitte 2013. Die Hälfte der Songs sind bereits geschrieben, jetzt spreche ich mit verschiedenen Produzenten. Ich habe genaue Vorstellungen davon, wie die Platte am Ende klingen soll.

Wirst du das Album auf deinem eigenen Label MANGROVE veröffentlichen?

Das weiß ich noch nicht. Ich habe keine Verträge mit anderen Labels, daher könnte ich diesen Weg gehen. Vorausgesetzt, es ergibt Sinn.

Warum hast du dein eigenes Label gegründet?

Ich wollte eine eigene Plattform haben, auf der ich meine Musik veröffentlichen kann. Einmal damit angefangen, habe ich gemerkt, dass es mir genauso viel Spaß macht, die Musik anderer Leute rauszubringen. Leider sind die Geschäfte bisher nicht so gut gelaufen, weshalb ich gerade kein Geld habe, um weitere Projekte zu realisieren.

Hast du all deine Songs ebenfalls selbst aufgenommen?

Die ersten Sachen schon. Sie wurden aber von meinem Freund ANTTI UUSIMAKI abgemischt. Die darauffolgende Single habe ich mit M.E.S.H produziert, was eine tolle Erfahrung gewesen ist.

Welche Bedeutung hat das Internet für deine Arbeit? Du scheinst dich dort sehr wohl zu fühlen.

Im Netz zu surfen gehört für mich zum Alltag. Es ist die normalste Sache der Welt.

Ist das Internet nützlich für Musiker?

Auf jeden Fall. Es kann ihnen aber auch schaden. Am Ende muss das jeder mit sich selbst ausmachen.

Heißt du wirklich DAN BODAN?

Nein! Mein richtiger Name ist twink_kid92!

Links: tumblr / DFA / MANGROVE

(Fotos: TONJE THILESEN)