Empfehlung

Der selbsterklärte Vinyljunkie MADTEO fing vergleichsweise spät an mit dem Produzieren. 27 Jahre war er alt, als er auf einem aus zweiter Hand erstandenen Sampler seine ersten Tracks zusammenbaute. Inzwischen ist der italienische Musiker aus Padua, der mit bürgerlichem Namen MATTEO RUZZON heißt, einer der gefeiertsten Produzenten der Underground-Dancemusic-Szene. Das liegt zum einen an seiner Philosophie: MADTEO versteht sich als Fan und nicht als Künstler. Aber auch sein einzigartiger Sound hat zu seinem Ruhm beigetragen. Die Musik MADTEOS bewegt sich zwischen druckvollem Instrumental-Hip-Hop und relaxtem House.

Sein Debüt und einige weitere EPs veröffentlichte MADTEO auf den angesagten Underground-House-Labels WORKSHOP und HINGE FINGER. Noi No, sein zweites Album, erscheint nun auf dem legendären Experimental-Label SÄHKÖ RECORDINGS, das unter anderem die erste EP des finnischen Industrial-Projekts PAN SONIC herausgebracht hat.

Auf Noi No geht MADTEO neue Wege. Ganz besonders fällt auf, dass ein Großteil der Tracks ohne Beats auskommen. Führt man sich vor Augen, dass diese für die Ästhetik des Musikers bisher maßgeblich und in all seinen anderen Tracks vertreten waren, erscheint dieser Umstand umso mutiger. Anknüpfungspunkte an seine bisherigen Arbeiten sind hingegen der rough abgemischte Sound und die Dekonstruktion fester Formen, die durch alle Tracks hindurch betrieben wird. Nun wurde gerade das Spiel mit Strukturen im House-Bereich zuletzt bis an die Grenzen ausgereizt. Im Vergleich zu vielen seiner Kolleg_innen fing MADTEO damit aber schon viel früher an. Entsprechend wirkt dieses Stilmittel bei ihm weniger aufgesetzt.

Eine weitere Überraschung sind MADTEOS Vocals. Fast erinnern sie an eine Beichte, so persönlich sind die Texte, so zart ist die Stimme, die diese Texte vorträgt. Derartig nah ist man dem Produzenten bisher zu keinem Zeitpunkt gekommen. In dieser Hinsicht hat Noi No große Ähnlichkeiten mit den Klassikern Silent Introduction von MOODYMAN und Midtown 120 Blues von DJ SPRINKLES, bei denen lange Monologe von sanft pumpenden House Beats begleitet werden. Wie MADTEO nutzen die beiden Produzenten hedonistisch anmutende Musik als Untermalung für eine intime Introspektion.

Kein Zweifel: Noi No ist ein bis zur letzten Konsequenz ambitioniertes Album, dessen Stärken in der Ablehnung gängiger Genre-Klischees liegt. Und doch hat die Platte zwei schwache Momente: Das Vocal-Sample in „Vox Your Nu Yr Resolution“ unterhält zunächst, fällt nach mehrfachem Hören jedoch auf die Nerven. Das Gleiche gilt für „Rugrats Don’t Techno for an Answer“, das aus mehreren Samples des DRAKE-Songs „Marvin’s Room“ besteht. Der Bezug auf den kanadischen Rapper kann indes als Statement zum Desinteresse junger Leute in Kanada und den USA an Techno und House und der Dominanz von R&B auf dem nordamerikanischen Musikmarkt gelesen werden.

House Music in ein Albumformat zu bringen, ist schon immer eine große Herausforderung gewesen. Und MADTEO war bisher sehr erfolgreich damit, kein House-Album aufzunehmen. Nichtsdestotrotz ist es dem Produzenten gelungen, eine Platte zu machen, welche an die Qualität seiner anderen Releases herankommt und sich somit nahtlos in sein Klanguniversum fügt. Noi No könnte MADTEO zum großen Durchbruch verhelfen und ihm die Anerkennung bescheren, die er verdient. Nicht, dass er das nötig hätte.

Links: SÄHKÖ

WARREN O’NEILL ist ein Mathematiker und DJ aus Limerick. Er ist davon überzeugt, dass bis Ende 2013 in der PANORAMA BAR nur noch Hip-Hop zu hören sein wird.

Foto: TOMMI GRÖNLUND

Artwork: SÄHKÖ RECORDINGS

 

Gespräche

2012 war ein gutes Jahr für NADINE AND THE PRUSSIANS. Gemeinsam mit DIE-TÜREN-Bassist RAMIN BIJAN und WHITEST-BOY-ALIVE-Produzent NORMAN NITZSCHE spielten sie ihre erste EP ein, CHRISTIANE RÖSINGER ließ sie in ihrer sagenumwobenen FLITTCHENBAR auftreten und auch in den Medien hat das Popduo einige Beachtung gefunden. Sie alle haben Recht. NADINE FINSTERBUSCH und BRUNO BAUCH haben ein paar großartige Popsongs geschrieben, die eine unwiderstehliche Leichtigkeit versprühen. Eine tolle Liveband sind die beiden MusikerInnen aus Berlin und Dortmund obendrein. Ausruhen wollen sich NADINE und BRUNO auf diesen ersten Erfolgen allerdings nicht und haben für 2013 bereits weitere Pläne geschmiedet: Die EP soll veröffentlicht, die Band erweitert und die erste große Tour in Angriff genommen werden. Im Interview mit CARTOUCHE sprach das Duo über sein Erfolgsjahr, seine Gründungsgeschichte und seine Zukunft.

NADINE, BRUNO, ihr beide kommt ursprünglich aus Dortmund. Wie seid ihr mit Musik in Berührung gekommen?

NADINE: Das ist schwer einzugrenzen. Prägend war sicherlich, dass ich im Kinderchor gesungen habe. Dort habe ich neben Kinderliedern eine Menge Popsongs kennen gelernt, BEATLES, TAKE THAT und so Sachen. Das Fernsehen spielte aber auch eine wichtige Rolle. Ich habe viel MTV und VIVA II geguckt. Eines Tages sah ich dort einen Auftritt von BJÖRK. Ich war überwältigt und beschloss, genauso zu werden wie sie.

BRUNO: Bei mir lief das hauptsächlich über die Familie. Meine Eltern hatten eine große Plattensammlung, mein Bruder ist Musiker.

Und wie habt ihr euch kennen gelernt?

NADINE: Während einer Klassenfahrt nach Norderney. BRUNO und ich gingen damals in dieselbe Klasse. Während die anderen in einer norddeutschen Dorfdisko tanzen waren, blieben wir in der Herberge und spielten Musik. An dem Abend schrieben wir auch unseren ersten Song »Jacket with my Pocket«. Das war 1996. BRUNO war 15 und ich 16 Jahre alt.

BRUNO: Danach haben wir eifrig weiter gemacht. NADINE kam nach der Schule oft mit zu mir. Ganze Nachmittage haben wir in meinem Zimmer gesessen und Songs geschrieben. Unsere erste Band nannten wir THE POSH KIDS. Wenig später gründeten wir mit ein paar Freunden LORKA, mieteten einen Proberaum, nahmen ein Album bei einem kleinen Label auf und spielten eine ganze Reihe Konzerte in Nordrhein-Westfalen.

Gibt es in Dortmund so etwas wie eine Musikszene?

BRUNO: Zumindest haben viele Leute eine Band, das sind allerdings eher so Profi-Mucker, die Jazz spielen oder Metal. Ein paar gute Konzerträume hat die Stadt auch zu bieten.

NADINE: Wir haben aber nirgendwo richtig reingepasst mit unserer Musik, deshalb waren wir auch nie Teil einer Szene.

Ihr macht schon so lange Musik zusammen. Wird das nicht irgendwann langweilig?

BRUNO: Ganz im Gegenteil. Nach all der Zeit verstehen wir uns fast blind. Es ist schon ein bisschen unheimlich, dass wir von der Ästhetik her immer in dieselbe Richung gehen.

Wann habt ihr THE PRUSSIANS gegründet?

NADINE: Das war 2007, kurz vor meinem Umzug nach Berlin. Ich sollte ein Konzert spielen, hatte aber keine Band mehr, weil LORKA zu der Zeit schon lange nicht mehr existierte. Allein auftreten wollte ich aber auch nicht. Ich suchte also nach Mitmusikern. Wenig später saß ich bei BRUNO in der Küche und schrieb mit ihm an neuen Songs. Es war direkt wieder wie früher.

Euch gibt es also schon seit fünf Jahren!?

BRUNO: Genau. Mein Job und die große Distanz zwischen Berlin und Dortmund haben verhindert, dass ich mehr Zeit und Energie in die Band investieren konnte. Deshalb hatte das Projekt eine lange Anlaufphase.

NADINE: Wir haben am Anfang viel mit der Besetzung herumexperimentiert. Mal waren wir mehr, mal weniger. Eine Zeit lang bin ich sogar ganz allein aufgetreten.

Wann kam die Wende?

BRUNO: Ende 2011, als ich merkte, dass mir die Musik sehr wichtig ist. Ich habe meinen Job gekündigt und bin jetzt viel öfter in Berlin. Ganz nach Berlin ziehen kann ich aber nicht. Ich bin Grafikdesigner, die Konkurrenz hier ist einfach zu groß.

NADINE: BRUNO musste geahnt haben, dass sich bald tolle Gelegenheiten für uns ergeben sollten.

Was für Gelegenheiten waren das?

NADINE: Wir haben unsere erste EP aufgenommen. Mit RAMIN BIJAN von den TÜREN.

Wie ist diese Zusammenarbeit zustande gekommen?

NADINE: Ich arbeite in einer Kantine in Kreuzberg, an die Kreativ- Büros, Ateliers, Proberäume und Tonstudios angeschlossen sind. Die Leute, die dort arbeiten, essen regelmäßig bei uns. RAMIN ist einer von ihnen. Irgendwann kamen wir dann ins Gespräch. Und als ich für einen Freund einen Song zu einem Festival in Graz beisteuern sollte, fragte ich RAMIN, ob er mir helfen wolle. Er stimmte zu und die Arbeit lief so gut, dass ich ihn bat, unser Demo abzumischen. Er hörte sich die Songs an und fand sie so gut, dass er vorschlug, sie noch einmal mit einer Band neu aufzunehmen. Das war Ende November 2011. Im Februar 2012 sind wir dann ins Studio gegangen.

Wer war noch alles an den Aufnahmen beteiligt?

NADINE: SEBASTIAN von JA PANIK, LEO AURI von THE SAY HIGHS und NORMAN NITZSCHE. Was SEBASTIAN für uns am Schlagzeug gespielt hat, war großartig. Eine Freundin hat uns einander vorgestellt. LEO hat die Pianos und Keyboards eingespielt. NORMAN schaute am ersten Tag der Sessions vorbei, weil er mal in unsere Musik reinhören wollte. Am nächsten Tag kam er wieder und blieb dann bis zum Schluss. Alle Beteiligten haben lauter tolle Ideen beigetragen, es war eine super Zusammenarbeit.

BRUNO: Insgesamt haben wir sechs Songs mit Band aufgenommen und drei Songs zu zweit. Nach circa einem Monat waren wir fertig.

Und wie geht es jetzt weiter?

BRUNO: Wir wollen unsere Band erweitern. Nicht mehr nur zu zweit auftreten wie bisher, sondern mit mehr Leuten. Auch wenn das mit den Loops sehr viel Spaß macht und wir als Duo super funktionieren.

NADINE: Die aufgenommen Songs auf CD oder Vinyl zu veröffentlichen wäre ebenfalls toll. Ein Video haben wir ja schon. Auf Tour zu gehen ist ein weiteres großes Ziel!

Ihr wollt also Ernst machen.

BRUNO: Richtig. Wir sind gerade unglaublich produktiv, haben viele Songideen. Vielleicht war diese Ruhephase am Anfang des Projekts doch ganz gut. So konnten wir unsere Energie sammeln.

NADINE: Seit diesem Glück mit den Aufnahmen passieren immer mehr tolle Sachen. Wir haben das Gefühl, dass wir jetzt etwas mehr Aufmerksamkeit bekommen. Auch in Wien haben wir im letzten Jahr gespielt, einer der Höhepunkte 2012.

Wie würdet ihr eure Musik beschreiben?

NADINE: Ich sage immer, wir machen Popmusik.

BRUNO: Wir sind heute wesentlich eingängiger als früher. Nicht mehr so vertrackt.

Was sind eure Einflüsse?

NADINE: BEACH HOUSE und BJÖRK zum Beispiel. BEACH HOUSE haben uns bestärkt, unser Ding weiter zu machen, schließlich sind sie auch ein Duo. Ihre Songs haben eine tolle Stimmung. Bei BJÖRK hat mich ihre Art, an Gesangsmelodien heranzugehen, sehr beeinflusst. Obwohl unsere Melodien eingängiger sind.

NADINE, wenn du nicht Musik machst, liest du aus deinen alten Tagebüchern vor, wie bist du auf diese Idee gekommen?

NADINE: Ich habe meine Tagebücher bei einem Umzug gefunden. An die meisten Sachen konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, fand es aber lustig, mich wieder damit auseinander zu setzen. Eigentlich wollte ich es dann nur meinen Freunden vorlesen. Letzten Endes wurde aber doch eine größere Sache draus. Unter anderem habe ich zweimal beim 100°-FESTIVAL im HAU gelesen, in Basel, Wien, Dortmund, Hamburg und Würzburg. In der Schweiz gab es sogar einen kurzen Fehrnsehbericht über die Lesung. Wow!

Du warst also nicht peinlich berührt von deinem früheren Ich?

NADINE: Nein, ich lache eher darüber.

BRUNO: Es ist echt schade, dass das Tagebuch genau dann endet, wenn wir uns kennenlernen.

Gibt es eine Anekdote, die du besonders magst?

NADINE: Meine Lieblingsstelle ist die, in der ich ein Drehbuch für einen Film verfasse mit dem Titel: „You are my Babe“. Die Hauptrolle spielen ich und MARK OWEN von TAKE THAT, in den ich damals verliebt war. Die Handlung ist unabsichtlich abgekupfert von Bodyguard, vor allem die Szene, in der ich wie WHITNEY HOUSTON am Ende in den Jet einsteige und zurück renne und MARK mir daraufhin sagt, dass er mich liebt. Am Ende heiraten wir bei den MTV EUROPEAN MUSIC AWARDS und kriegen Zwillinge. Wir gehen gemeinsam auf Tour, ich bringe meine Soloplatten raus und spiele als Vorgruppe von TAKE THAT. Das ist so gut, das müsste man verfilmen.

Ihr beiden seid inzwischen ja auch schon älter als dreißig. Kann man zu alt werden für Popmusik?

NADINE: Ich fühle mich nicht wirklich alt, mir wird auch immer gesagt, ich sähe aus wie 26!

BRUNO: Ich glaube, das ist eher umgekehrt. Schau dir SONIC YOUTH an. Obwohl die über 50 sind, ist ihre Popularität ungebrochen.

NADINE: Genau. Ich würde noch immer alles dafür geben, einmal mit THURSTON MOORE ausgehen zu können.

Mit 30 hört das Leben also nicht auf?

BRUNO: Auf keinen Fall. Ich kenne mehrere Leute in meinem Alter, die gerade ihre Jobs gekündigt und sich selbstständig gemacht haben.

NADINE: In Berlin ist das ja auch eigentlich kein Thema. Wie heißt es in diesem Schlager so schön: „Das Alter ist nur eine Zahl“.

Links: Homepage / Tagebuch NADINE

Fotos: MATTHIAS HEIDERICH

Tanzen

THE HOLIDAY CROWD (LIVE) / DER ELEGANTE REST (LIVE) / YOSHI NAKAMOTO (DJ) / MONOPHONIC (DJ) / 18. MÄRZ 2013 / 19:30Uhr / MARIE ANTOINETTE

Links: Facebook

Sounds

Tracklist:

1. NICHOLAS KRGOVICH – Dreamin‘ Man (NEIL YOUNG Cover)

2. BOBBY BIRDMAN – Surrender (SUICIDE Cover)

3. MY ROBOT FRIEND – Astronaut (feat. DEAN WAREHAM)

4. VIERNES – Ancient Amazon/New Fashion

5. FUXA – Some Things Last A Long Time (DANIEL JOHNSTON Cover/feat. BRITTA PHILIPS)

6. BRANCHES – Canção para o Luís (ROBERT FOSTER Rework)

7. XIU XIU – The Girl Is Mine (PALE MOLESTER Version)

8. GO SUCK A FUCK – Um

9. PLASTIC FLOWERS – In You I’m Lost

Links: BandcampMouca-Homepage / Mouca-Facebook

Editorial

Liebe Leser_innen,

Berlin ist eine Stadt, in der vieles gleichzeitig passiert. Das mag reizvoll sein. Genauso schnell kann es aber auch passieren, dass man den Überblick verliert. Das gilt insbesondere für die Kulturlandschaft der Stadt mit all ihren großen und kleinen Nischen. Doch nicht nur Konsument_innen haben mit dem Überangebot zu kämpfen – junge und weniger etablierte Künstler_innen sind davon ebenso betroffen. Viel zu oft gehen sie im Rauschen der Stadt einfach unter, ohne dass jemand Notiz von ihnen genommen hätte. Das ist schade. Schließlich sind gerade sie es, die Bestehendes in Frage stellen und Neues ausprobieren. Eben jenen Berliner_innen wollen wir ab dieser Ausgabe verstärkt unsere Aufmerksamkeit schenken.

Zu den Highlights unserer ersten Berlin-Ausgabe gehört der Musiker DAN BODAN, der in Berlin Zuflucht vor seinem Kunst-Studium gefunden hat. Neben einem einzigartigen Stilbewusstsein verfügt der Kanadier über eine beeindruckende Stimme. Sein Song „Aaron“ ist ein Hit und erschien vor kurzem auf dem New Yorker Label DFA. Wir sind fest davon überzeugt, dass DAN es einmal weit bringen wird und wünschen ihm an dieser Stelle für seine Zukunft alles Gute. Nicht minder vielversprechend ist das Popduo NADINE AND THE PRUSSIANS. Bei NADINE FINSTERBUSCH und BRUNO BAUCH sitzt einfach alles, vom Haarschnitt bis zu den Melodien. Wir haben uns mit den beiden getroffen, um mit ihnen unter anderem über ihre Zukunftspläne zu sprechen. Mit der Experimental-Band MAN MEETS BEAR hingegen führten wir ein unvorbereitetes Interview, in dem es neben den Nachteilen des Berühmtseins auch um ihre Liveshows ging. Diese sind immer ein besonderes Ereignis.

Berlin hat aber nicht nur aufregende neue Musikprojekte zu bieten. Auch in der Modeszene gibt es eine Vielzahl junger Talente. Nachdem wir in der ersten Ausgabe bereits den wundervollen VLADIMIR KARALEEV portraitiert haben, widmen wir uns diesmal der aufstrebenden Designerin REGINA WEBER. REGINA studiert seit einem Jahr Mode an der Kunsthochschule Weißensee und assistiert in ihrer Freizeit der Designerin SISSI GOETZE. Wir freuen uns sehr, euch REGINAS erste selbstentworfene Kollektion präsentieren zu dürfen. Fotografiert hat sie LENNART ETSIWAH, den wir euch im letzten Heft vorgestellt haben. Model gestanden hat ihm PAULINE SCHMIECHEN. PAULINE hat für uns einen Fragebogen über ihre Vorlieben und Interessen in Sachen Mode ausgefüllt.

Ein weiterer Hingucker dieses Hefts ist die Fotostrecke von MATTHIAS HEIDERICH. MATTHIAS hat ein Faible für Gebäude. Wie er uns berichtete, schätzt er an ihnen vor allem ihre Geduld. Im Gegensatz zu lebenden Motiven könne man stundenlang um sie herumschleichen und nach immer neuen Details suchen. Für unsere dritte Ausgabe hat uns MATTHIAS einige Fotos aus seiner Reihe „Stadt der Zukunft“ zur Verfügung gestellt, in der er das Hansaviertel am Tiergarten festgehalten hat.

Bei all der Liebe zu Berlin wollen wir aber das Geschehen außerhalb der Stadt nicht aus dem Blick verlieren. Entsprechend finden sich in diesem Heft Texte, die sich mit Künstler_innen und Phänomenen außerhalb Berlins befassen. Der Berliner DJ WARREN O’NEILL empfiehlt das neue Album des Dancemusic-Produzenten MADTEO, HENNING LAHMANN wiederum hat sich die vier EPs von OLD APPARATUS angehört, einem Kollektiv, dem es durch das Spiel mit Anonymität gelungen ist, Autor_innenschaft zu verwischen. PAUL SOLBACH hingegen geht der Frage auf den Grund, warum sich Black-Metal nicht zum hippen Trend eignet.

Besonders wollen wir uns an dieser Stelle bei den Betreiber_innen des deutsch-portugiesischen DIY-Labels MOUCA, AUGUSTO GÓMEZ LIMA un CHARLOTTE JOHANNA THIESSEN, bedanken, die für uns ein Mixtape zusammengestellt haben. Bands, mit denen sie befreundet sind und die sie sehr schätzen, sind dort vertreten. Herunterladen könnt ihr es euch auf unserer Internetseite www.cartouche-blog.de/mouca.

Es lebe Berlin!

Viel Spaß beim Lesen!

Die Redaktion von CARTOUCHE

Theorie

Kollektives Vergessen

Kultur ist nicht was im Museum steht oder in der Oper aufgeführt wird, Kultur ist was wir daraus machen. Viele von uns haben sich längst von der Idee einer festen Leitkultur verabschiedet und bauen sich mit Filmen, Buttons, Kleidung, Tätowierungen, Büchern und dem eigenen Musikgeschmack einen auf den Leib geschneiderten Bedeutungskosmos auf. Oft vergessen wir dabei um die Geschichte oder ehemalige Bedeutung von Gegenständen, Handlungs- und Verhaltensweisen oder aber beziehen uns ganz bewusst darauf – oft Jahrzehnte später in einem neuen, vielfach kommerziellen Kontext. Aspekte globaler Kulturen leben demnach in ihrer/unserer Praxis und werden dabei fortlaufend umgedeutet. Das Stichwort lautet: Neukontextualisierung. Denn die Dinge sind nicht, was sie sind. Sie sind, was wir denken was sie sind und was wir mit ihnen anstellen.

„…das Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi”

So viel Ehrlichkeit vorweg: fand ich diese im Internet dokumen- tierte Einschreibung im öffentlichen Raum anfangs noch originell, so wurde dieser Eindruck schnell wieder revidiert. Stöbert man nämlich im kollektiven Gedächtnis des Internets, stellt sich diese Aussage als viel und leider oft auch falsch zitierte Plattitüde heraus. Neben oben angeführtem Vergleich tauchen noch Metaphern auf wie „Das Leben ist ein Zeichnen ohne Radiergummi” oder „Das Leben ist Zeichnen ohne Radiergummi”. Wahlweise werden der österreichische Maler und Schriftsteller OSKAR KOKOSHKA oder ein gewisser KEES SNYDER als Urheber angeführt. Dabei scheuen die Zitierenden weder vor der hochintellektuellen Ausformulierung ihrer individuellen Deutungsmuster, noch schrecken sie vor der Instrumentalisierung geliehenen Gedankenguts zur Bewerbung der gnostischen Lehre bzw. zur Aufklärung gegen Schwangerschaftsabbrüche zurück. Zwar kenne ich den genauen Entstehungskontext dieser Aussage nicht, die den Autoren oftmals nicht anführende Reproduktion im Internet und auf bedruckten Radiergummis im Schreibwarenladen jedoch macht den Eindruck, als habe dieser Satz ein „Eigenleben” entwickelt. Losgelöst von seinem ursprünglichen Kontext und der hochkommunikativen, öffentlichen Dynamik einer transformierenden Gesellschaft unterworfen, wird der Satz zum geflügelten Wort.

Dieses Phänomen ist keineswegs einzigartig, sondern vollzieht sich seit jeher mal auffälliger und mal unauffälliger. Eine begünstigende und öffentlich einsehbare Plattform für derartige Umdeutungen von Sinnzusammenhängen und Konnotationen ist heute das Internet. Dieses globale Netzwerk macht es nicht nur möglich in höherer Geschwindigkeit zu kommunizieren, sondern auch immer wieder kulturelle Grenzen hinter sich zu lassen. Musiker und Designer, Architekten und Schriftsteller, Musik- und Modefans – viele zitieren heute und gehen dabei sehr selektiv vor. In Anlehnung an menschliches Schaffen, tradierte Mythen, Bauwerke, Lieder und Geschichten, werden Dinge im Jetzt erschaffen, welche selbst in detailgetreuer Rekonstruktion nie wieder an ein vermeintliches Original oder ein historisch verzerrtes Bild von Zeitgeist heranreichen.

Einschreibung im urbanen Raum

Sieht man sich die Website des aus- gewählten Beispiels an, stößt man auf eine ganze Reihe symbolischer Einschreibungen in Berlin. Diese modernen Palimpseste gehen auf eine antike Kulturtechnik der Wiederbeschreibung zurück. Vormals auf ausgewaschenen oder abgekratzten Manuskriptseiten ausgeübt, hat diese reproduktive Technik im Laufe der kontinuierlichen Anwendung selbst eine De- und Neukontextualisierung erfahren und sich in den öffentlichen Raum verschoben. Autoren treten bei diesen modernen Beispielen in den Hintergrund, vielfach wird einfach zitiert. Auch sind die Einschreibungen vielerorts nicht lange erhalten, da sie entweder entfernt oder aber von den Nächsten verdeckt werden.

Dann ist da der selbst- und kontextreferentielle Inhalt des Satzes: ein Palimpsest im öffentlichen Raum, in dem es potentiell jederzeit „radiert” werden kann, reflektiert seine eigene „gezeichnete” Machart. Inhaltlich eine Unumkehrbarkeit postulierend, ist die Einschreibung in ihrer Form, ihrer kontextuellen Gestalt und als Produkt eines Lebens doch so auflösbar und dabei in einer Differenz wieder rekonstruierbar in einem neuen raumzeitlichen Kontext. In Kombination mit noch einem anderen Sachverhalt führt die Beobachtung dieses urbanen Intertextes zu einer interessanten Vermutung.

Im wissenschaftlichen Kontext der Medizin bezeichnet der Terminus Palimpsest das Phänomen des Filmrisses, also der Erinnerungslücke nach alkoholischem Rauschzustand. In beiden Verwendungskontexten konstituiert sich demnach ein festes Moment in der Bedeutung dieses Wortes: das Löschen. Es ist diese Beschreibung einer Amnesie, die in der angeführten Darlegung zu der Frage führt, wie es um das Vergessen beim kulturellen Gedächtnis steht. Wenn kulturelle Gedächtnisse durch gemeinsame Einschreibungen und damit auch Palimpseste konstruiert bzw. erhalten oder modifiziert werden, diese Einschreibungen selbst – zumindest in ihrer kontextgebundenen Form – aber vergänglich sind, besteht dann die Möglichkeit der kulturellen Amnesie?

Ein Exkurs in die Kulturwissenschaften

Folgt man den Ausführungen KARL H.HÖRNINGS und JULIA REUTERS, ist Kultur als ein dynamischer Prozess zu begreifen. Der praxis-theoretische Ansatz der Cultural Studies lässt das noch von GEERTZ postulierte, symbolisch-abstrakte selbstgesponnene Bedeutungsnetz hinter sich und untersucht den Begriff jenseits normativer Dispositionen in seiner pragmatischen Dimension. Die „Doing Culture” manifestiert sich abseits einer theoretischen Kompetenz in einer alltäglichen Performanz, aufrecht erhalten von einem Kultur schaffenden Menschen. Führt man sich hier vor Augen, dass das „Kulturwesen” Mensch nicht nur kulturelle Nachlässe verwaltet und modifiziert, sondern auch immer noch neue generiert, dann stellt sich einem die Frage nach der Verfassung des kulturellen Gedächtnisses. Trotz inkorporierter und externer technischer Speichermedien und gerade im Angesicht einer überaus schnelllebigen, globalisierten Populärkultur, stößt der Mensch an die Grenzen der Memoration.

Allerdings: im Gegensatz zur konkreten Form einer einzelnen kulturellen Einschreibung und Konstruktion, die im Grunde immer von Individuen abhängig ist, lebt die Kultur über beide weit hinaus. Sie mag sich in einer Vielzahl solcher Einzelakte begründen, ist aber als kollektives Orientierungsprogramm schließlich über sie erhaben. Nichtsdestotrotz lässt sich bereits jetzt beobachten, wie der Zugriff auf Traditionen und die gemeinschaftliche Ko-Memoration in Kulturräumen gerade in säkularisierten Gesellschaften wie der unseren immer selektiver werden. Soziale Dispositionen erfahren mit dem Prozess der Individualisierung und der Erschaffung eines zunächst klassenlosen Raumes namens Internet eine viel größere Dynamik. Galt früher als Maxime eine schöngeistige Hochkultur, ein ererbtes Repertoire ehemals führender Gesellschaftsschichten, dessen sich dann die Bildungsbürger-Schicht annahm und welches noch Horkheimer und Adorno gegen die „verdummende Kulturindustrie” ermahnend abzugrenzen suchten, dominiert heute die massenmediale Transformations-Maschine Pop.

Subversiv und hungrig, dekontextualisierend und reproduzierend, bedient sich die Popkultur wo sie nur kann. Angeheizt von der Werbe-, der Musik-, der Literatur-, der Kunst-, der Film- und der Modeindustrie und beschleunigt im delokalisierten Ort des Internet, vermengen sich in ihr die Narrative, Texte und Traditionen aus unterschiedlichen Kulturgebilden. Dabei werden nicht nur Bestandteile weltweiter Leit- und Subkulturen transformiert, sondern auch Errungenschaften der Popkultur selbst. Es wird geremixt.

Kultur als Selbstbedienungsladen

Wo der eine nun eine erfolgsversprechende Marktlücke wittert, bringen andere Kritik an. So kommt auch JONAS WOLF in seiner Bachelorarbeit „Die Kunst der Kontemplation – Wider unser Kommunikation” von 2011 in einem Kapitel auf den Remix zu sprechen. Aufbauend auf der eingehenden Analyse einer überkommunizierenden Gesellschaft und der FLUSSERSCHEN Unterscheidung zweier Grundpfeiler der Kommunikation Dialog und Diskurs, attestiert er unserer Leistungsgesellschaft eine diskursive Tendenz, die nach der Gliederung MICHEL MANFÉS einen Informationsmangel auf breiter Ebene bedeute. Dialoge kämen, einem zeitlichen- und einem Leistungsdiktat geschuldet, nicht mehr zu Stande und die Kommunikation offenbare ihre problematische Komplexität. JEAN BAUDRILLARD zitierend folgt er so „Die Zeit der Re-Produktion […] ist die Zeit des Codes, der Streuung und der totalen Austauschbarkeit der Elemente” (Baudrillard, 1978, S. 21 in Wolf, 2011, S. 33 f.). Lässt dieses Zitat nicht schon genug Rückschlüsse auf die Beschaffenheit unseres kulturellen Repertoires und unseren diesbezüglichen Umgang damit zu, lässt sich noch eine weitere Bemerkung rezitieren, diesmal von WILLIAM GIBSON, der polemisch bemerkt „Today’s audience isn’t listening at all – it’s participating. Indeed, audience is an antique a term as record, the one archaically passive, the other archaically physical. The record, not the remix, is the anormaly today” (Gibson, 2005, in Wolf, 2011, S. 34). Es ist diese reproduzierende Partizipation beziehungsweise eingekaufte Reproduktion der breiten Masse, die die von uns gelebte Popkultur so sehr auszeichnet – die einer symbolischen Kompetenz entbundene Performativität. Dabei ist der Remix keinesfalls ein rein musikalisches Phänomen. Er ist viel mehr das Transformations-Instrument, die Möglichkeit und das Diktat der Bricolage. Der spätmoderne, kulturschaffende und in einer Differenz immer reproduzierende Mensch ist ein Bastler und die „Doing Culture” ein Selbstläufer.

Amnesie und Umschreibung

Es bleiben nun zwei offene Fragen noch zu beantworten: Ist erstens ein kollektives Orientierungsprogramm revidierbar und besteht zweitens die Möglichkeit der kulturellen Amnesie? Ich denke ja und behaupte weiterhin, dass diese Prozesse sich gegenseitig bedingen. Natürlich können kulturell tradierte Verhaltensmuster, Kulturtechniken und über Generationen hinweg kommuniziertes Wissen nicht einfach wegradiert werden, aber sie können zerstaltet werden. In einer hochgradig dynamischen Progression, getrieben von milliardenschweren Kulturindustrien und einem von ihr inspirierten individualistischem Heer, werden die zahlreichen Facetten und Ausprägungen von Kulturen in kommunikativer Aneignung zu Collagen mit neuer Bedeutungsaufladung. Es wird nun in sofern nicht vergessen, als dass einfach überschrieben wird oder, um es in Anlehnung an die medizinische Definition des Palimpsestes auszudrücken: der hochkommunikative, translokale Vollrausch, verschleiert uns das kulturelle Gedächtnis.

GUENTHER LAUSE ist ein Kind seiner Zeit. In die Welt geworfen, versucht er sich an Orientierung und haust gedanklich in seiner großstädtischen Sternwarte. Spiegel einer Persönlichkeit und programmiertes Kultursubjekt, ermüdet er sich und andere zunehmend – über Betrachtungen bedeutungsvoller Schrotthaufen. GUENTHER LAUSE lebt.

Quellenverweise:

http://www.notesofberlin.com/search?updated-max=2012-01-18T09:00:00%2B01:00&max-results=5

Baudrillard, Jean: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin, 1978

Gibson, William: Wired Magazine, July 2005

Hörning, Karl H. & Reuter, Julia: Doing Culture – Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld, 2004

Wolf, Jonas: Die Kunst der Kommunikation – Wider unser Kommunikation, Hamburg, 2011