//Gespräche

Die digitale Revolution hat einen neuen Typus Künstler hervorgebracht: Er verschenkt seine Musik und nutzt erfolgreich die neuen Möglichkeit der Selfmade-Produktion und des Eigenvertriebs. Einer von ihnen ist der Chillwaver Chaz Bundick alias Toro y Moi, der für sein Debütalbum „Causers of this“ dies- und jenseits des Atlantiks viel gefeiert wurde. Bundick nahm seine ersten EPs und Alben in Eigenregie am Laptop auf und verbreitete sie anschließend über Blogs kostenlos im Internet. Wie er im Gespräch mit cartouche. erklärt, gehöre das inzwischen zum Pflichtprogramm, wolle man es heute noch zu etwas bringen.

Chaz, die digitale Revolution hat das Musikgeschäft gründlich auf den Kopf gestellt. Plattenfirmen und Musikmagazine scheinen angesichts der neuen Möglichkeiten des Eigenvertriebs und der kostenlosen PR-Arbeit der unzähligen Fanblogs überflüssig geworden zu sein. Inwiefern hat dir das Internet bei deiner Arbeit geholfen?

Chaz Bundick: Ich habe das Internet genutzt, um meine Musik kostenlos zu verbreiten. Hätte ich diese Möglichkeit nicht gehabt, wäre ich längst nicht so erfolgreich.

Moment mal, du hast deine Musik kostenlos ins Netz gestellt?

Selbstverständlich! Kennst du noch Jemanden, der Musik legal erwirbt? Ich nicht. Warum die eigenen Aufnahmen also nicht gleich verschenken? Nicht einmal Musiker geben noch Geld für Musik aus. Künstler, die das Gegenteil behaupten, lügen oder wissen ganz einfach nicht, wie man Mediafire und Rapidshare benutzt.

Du hast also nichts gegen Musikblogs, die einfach nur die Rapidshare-Links von geleakten Alben verbreiten?

Ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Das sind meine Lieblingsblogs! Einen Großteil der Musik, die ich besitze, habe ich illegal aus dem Netz geladen. Genauso habe ich kein Problem damit, dass meine Aufnahmen im Netz kursieren.

Kannst du trotzdem von deiner Musik leben?

Klar! Ich verdiene mein Geld mit Konzerten.

Du hast deine Musik anfangs also kostenlos und ohne die Hilfe eines Labels vertrieben. Wo hast du noch auf klassische Strukturen verzichtet?

Ich habe Tonstudios gemieden. Meine Alben und EPs habe ich bei mir zuhause in South Carolina auf meinem Laptop produziert. Hierfür nutzte ich die Software Fruity Loops und ein Kassettenaufnahmegerät.

Du schlüpfst also in die Rolle des Produzenten. Welche Talente muss ein Musiker heutzutage noch besitzen?

Wenn du es heute zu was bringen willst, musst du dich auch mit Management auskennen. Da das Internet die Kommunikation erheblich erleichtert hat, ist das gar nicht mehr so schwer. Eins ist klar: Es reicht längst nicht mehr aus, einfach nur gute Musik zu machen.

Würdest du sagen, dass das Musikgeschäft durch das Internet demokratischer und partizipativer geworden ist?

Es ist auf jeden fall einfacher geworden, sein eigenes Ding zu machen. Trotzdem kann man bei Fülle an Musik schnell den Überblick verlieren. Ich persönlich finde kaum noch die Zeit, mich richtig auf ein Album einzulassen.

Links: toro y moi / blackbird blackbird / millionyoung

(Foto: BRYAN BUSH)


//Portrait

Mit experimenteller Musik Geld zu verdienen, ist nicht einfach. Viele Konzerträume in Berlin machen daher bei der Planung ihres Programms einen großen Bogen um Bands, die mit ihrer Arbeit neue Klangräume erschließen. Seit 2007 gibt es in Berlin die Musikbar Madame Claude, die genau diesen MusikerInnen ein Zuhause bietet. Im Gespräch mit cartouche. berichteten die Barbetreiber, wie sie das Finanzierungsproblem lösten ohne dabei Kompromisse eingehen zu müssen.


„Wir spielen Musik, die sonst keiner will“, sagt Jean-Christophe Simon. Treffender hätte der französische Konzertveranstalter das Programm seiner Bar Madame Claude kaum beschreiben können. Gerade mal drei Jahre alt, ist die Bar mit ihrem Musikkeller nicht nur eine feste Größe in der Berliner Alternativ-Szene, sondern auch ein wichtiger Anlaufpunkte für experimentelle Musiker aus Amerika, Australien und Europa. Auf der Bühne der Bar, die sich in den Räumen eines ehemaligen Bordells in der Nähe des Schlesischen Tors befindet, stehen vor allem jene Bands, die für die größeren Konzerträume Berlins nicht kommerziell und bekannt genug sind.

Als Madame Claude im Februar 2008 öffnete, gab es in Berlin kaum legale Konzerträume für unkonventionelle Musik. Der Bastard und die zentrale Randlage waren seit Kurzem geschlossen, lediglich die Kollektive des Schokoladens und des West Germany interessierten sich für internationale KünstlerInnen aus experimentellen Stilrichtungen wie Drone, Noise oder Anti-Folk. Da sich Konzerte in Berlin erst ab 300 Zuschauern lohnen, ließen viele größere Lokale die Hände von Bands, die in der Stadt nicht weiter bekannt waren. Avantgardistisch zu sein brachte eben noch nie das große Geld. Dieses Problem lösten Simon und seine drei Mitstreiter Julien Bouille, Sebastien Becote und Sylvain Livache mit einem Konzept, das man unter anderem aus Berliner Hausprojekten und Galerien kennt: Mit den Einnahmen aus der Bar schafften sie die Grundlage für ihre Konzerte. „Das war in unseren Augen die einzige Möglichkeit, legal kleinere Bands nach Berlin zu holen“, berichtet Simon.

Die Idee ging auf. Inzwischen ist Madame Claude auch über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. Angesagte KünstlerInnen wie die Berufsexzentrikerin Kevin Blechdom oder Animal-Collective-Gitarrist Deakin spielten in der Musikbar genauso wie viele kleinere Acts aus Australien, Italien oder Frankreich. In der Bar Madame Claude konnten sich die MusikerInnen sicher sein, auf ein größeres und aufgeschlossenes Publikum zu treffen, selbst wenn sie eine halbe Stunde lang nur einen einzigen Ton spielten. Inzwischen laufen pro Woche vier Konzerte mit anschließendem DJ-Set. Bouille, der für das Booking zuständig ist, bekommt pro Tag 20 bis 40 Konzertanfragen. Für die Konzerte gibt es keinen festen Preis. „Die Leute sollen zahlen, was sie können. Dafür bieten wir ihnen das Beste, was wir können“, erläutert Bouille.

Ende 2010 eröffnete das Kollektiv einen externen Konzertraum an der Jannowitz-Brücke: Marie Antoinette. Dort passen nicht nur mehr Leute rein, die Bands haben im Gegensatz zur Bar Madame Claude auch die Möglichkeit, ein Schlagzeug zu benutzen. Um den Raum zu finanzieren, wird er auch an Hochzeitsgesellschaften oder Tanzschulen vermietet. Im Marie Antoinette waren bereits die Lo-fi-Veteranen Owen Ashworth alias Casiotone for the Painfully alone und Ariel Pink zu Gast.

Durch ihre Arbeit haben sich Simon und seine drei Mitstreiter ein kleines Netzwerk aufgebaut. Zum einen sind sie mit den BetreiberInnen des West Germany, Antje Öklesund und Schokoladen befreundet, mit denen sie gemeinsam auf Konzerte gehen. Zum anderen zählen zum Freundeskreis des Kollektivs eine ganze Reihe von MusikerInnen, die schon öfter bei Madame Claude und Marie Antoinette gespielt haben. Die Noise-Popper von Ditto Destroyer, Velvet Condom oder Ania et le Programmeur sind gern gesehene Gäste und gehören zu den interessantesten Acts der Experimental-Szene. Einige Mitglieder dieser Bands arbeiten sogar in der Bar, putzen dort den Boden oder stehen hinterm Tresen, um sich für ihre Kunst etwas dazuzuverdienen. „Damit ermöglichen wir den Musikern, in Berlin zu bleiben und die Musik zu machen, die sie wollen“, resümiert Simon. So wird die Bar Madame Claude tatsächlich dem eigenen Anspruch gerecht: ein Zuhause für Musik zu sein, die sonst keiner will.

Links: madame claude / marie antoinette / west germany / schokoladen / antje öklesund / ditto destroyer / velvet condom / ania et le programmeur

(Fotos: JJ WEIHL / MADAME CLAUDE)


//Gespräche

Keine andere Stadt weist aktuell eine so hohe Dichte an relevanten Bands auf wie New York. Vor allem in Brooklyn sind neben größeren Acts wie Animal Collective oder LCD Soundsystem eine ganze Reihe kleiner Punk- und Folkbands wie Vivian Girls, Real Estate oder Woods zuhause. Zu den neuesten Errungenschaften der Szene zählt die Rock-Combo Babies, die von Woods-Gitarrist Kevin Morby und Vivian-Girls-Sängerin Cassie Ramone gegründet wurde. Am 24. März spielte die Band im Marie Antoinette und verriet im Gespräch mit cartouche., wie hohe Mieten die eigene Produktivität fördern können und wer die wichtigsten Akteure der DIY-Szene Brooklyns sind.

In seinem Song „Hard Times In New York Town“ thematisierte Bob Dylan einst sein zwiespältiges Verhältnis zu der amerikanischen Weltmetropole. Zum einen lobte er die Energie der Stadt, zum anderen monierte er den harten Alltag. Ihr wohnt alle in Brooklyn, wie würdet Ihr New York beschreiben?

Cassie: Ich sehe die Stadt ähnlich wie Dylan. New York ist großartig, aber das Leben dort ist sehr hart. Da die Mieten extrem teuer sind, ist man dazu gezwungen ständig produktiv zu sein. In anderen Städten reicht es aus, zwei Tage die Woche arbeiten zu gehen, um die Miete zahlen und sich etwas zu Essen kaufen zu können. In New York City geht das allerdings nicht. Erstaunlicherweise ist es genau das, was die Leute in die Stadt treibt. Viele entfalten unter dem finanziellen Druck erst ihr vollständiges künstlerisches Potenzial, weil sie gezwungen sind in jeden Bereich ihres Lebens kreativ zu sein. Mich persönlich motiviert die Stadt dazu, rauszugehen und Musik zu machen.

Kevin: Du kannst einfach nicht still zuhause sitzen bleiben. Wegen der hohen Mieten bist du dazu gezwungen, dein Leben ständig zu rechtfertigen und hast deshalb den Drang, immer etwas machen zu müssen. Wir haben zwei Monate in Kalifornien gelebt, wo alles viel billiger ist. Dort war es vollkommen okay, mal zuhause zu bleiben und sich zu entspannen. Wenn du das in New York machst, erklären dich die Leute für verrückt.

Ist es trotz des teuren Lebens möglich in Brooklyn von der Musik zu leben?

Cassie: Klar geht das. Man muss sich einfach nur reinhängen. Schau mich an: Mit dem Geld, dass ich mit meinen Musikprojekten verdiene, schaffe ich es problemlos, alle meine Rechnungen zu bezahlen. Zwar habe ich keinen extravaganten Lebensstil, schlecht geht es mir aber trotzdem nicht. Ich bin stolz darauf, mich nie verkaufen oder irgendwelche Kompromisse eingehen zu müssen.

Von außen betrachtet wirkt die Musikszene in Brooklyn sehr lebendig und gut vernetzt. Was ist euer Eindruck?

Cassie: Die Szene in Brooklyn wächst stetig. Widowspeak und Dutch Treat sind zwei neue aufregende Bands aus Brooklyn. Von Big Troubles, Nude Beach und K Holes ganz zu schweigen.

Kevin: Das schöne daran ist, dass fast alle miteinander befreundet sind. Der Bassist der K Holes und Cassie teilen sich ein Studio. Ich wiederum wohne mit unserem Produzenten Jarvis Taveniere zusammen. Jarvis hat außer dem Babies-Debüt auch die Platten der Vivian Girls, von Widowspeak, Real Estate und meiner anderen Band, den Woods, aufgenommen. Er ist ein integraler Bestandteil der Szene.

Wer ist sonst noch wichtig in der Szene?

Cassie: Todd P. ist eine weitere Schlüsselfigur in Brooklyn. Todd ist ein guter Freund von mir und hat sich als Konzert-Promoter einen Namen in der Szene gemacht. Trotz seines Erfolgs versucht er die Konzertpreise billig zu halten und engagiert sich für die Community. Viele Leute sagen: „Oh man, Todd P. kontrolliert alles“, dabei versucht er nur jeden dazu zu bringen das zu machen, was er macht. Er hat anderen Promotern auf die Beine geholfen, ich denke er macht einen guten Job in Brooklyn.

Welche sind die wichtigsten Spots in Brooklyn?

Kevin: Zentrale Clubs wären das Glasslands, Monster Island Basement, Death By Audio und das Market Hotel. Es gibt aber auch Lofts und Lagerhäuser, in denen es regelmäßig Shows gibt. Besonders oft laufen dort Houseparties.

Was sind „Houseparties“?

Kevin: Das sind kleine Gigs, die manchmal in normalen Wohnungen stattfinden und die verrückter und lockerer sind als normale Konzerte. Viele Bands nutzen die Auftritte auf diesen Parties, um runter zu kommen. Es ist genau dieser Vibe, den wir an Brooklyn so sehr mögen.

Links: the babies / woods / vivian girls / dutch treat / widowspeak

(FOTO: JJ WEIHL)

//Sessions

Bob Dylan ist einer der umtriebigsten Künstler der Popgeschichte. Nachdem der Sänger bereits mehrfach sein Talent als Künstler, Dichter und Schauspieler unter Beweis gestellt hatte, schlüpfte er von 2006 bis 2009 in die Rolle des Radiomoderators – mit großem Erfolg. In seiner Sendung Theme Time Radio Hour führte er zu verschiedenen Themen wie “Weather”, “Coffee” oder “Smoking” Musik mit Prosa und Lyrik zusammen, was in der Summe einen eigensinnigen Querschnitt durch die amerikanische Popularkultur ergab. Inspiriert durch Dylans Radioprojekt startet an dieser Stelle die cartouche.-Reihe //Sessions, in deren Rahmen das aktuelle Musikgeschehen kommentiert und dokumentiert werden soll.

American Songbook

Im vorletzten Kapitel seiner Dylan-Biographie Bob Dylan befasst sich Musiktheoretiker Heinrich Detering ausführlich mit Dylans Radioexperiment. Wie er berichtet, hatte Dylan es zum Ziel seiner Sendung erklärt, den musikalischen Horizont seiner HörerInnen zu erweitern. So reichte die Auswahl der Songs von Bigband-Klängen zu archaischen Bluesnummern. Dabei richtete Dylan seine Neugier nicht nur auf die vergessenen Namen, sondern vor allem auf die verlorene Einfachheit der Alten, die seiner Meinung nach von den Modernen vergessen worden ist. Häufig speiste sich die Auswahl aus Schallplatten der jeweiligen musikalischen Gründerzeiten einer Stilrichtung, von New Orleans Jazz über Swing bis hin zum frühen Rock ‚n‘ Roll und zum Punk. Die Figur des Ursprungs fesselte Dylan wie keine andere.

Weiterhin konstatiert Detering, dass Dylans Radiostunden ein American Songbook ergaben, das sich zeitweise am Rand der musikgeschichtlichen Dokumentation bewegte. Sie präsentierten nicht nur nur Blues und Country, Rock ‚n‘ Roll und Western Swing, sondern auch Salsa und Ska, Raggae und Rap, Bigband-Sounds und Bebop. Ausführlich berichtete Dylan dabei von der Entstehung der Songs, von Fassungsunterschieden, vom Leben und Sterben der Musiker und nahm immer wieder Bezug auf große amerikanische Themen. Dylan erzählte von Sklavenmärkten und Rassismus, von drogensüchtigen Sängern, die zugrunde gegangen, und von solchen, die zu vorbildlichen Sozialarbeitern geworden waren, von komischen Typen, von Erfolg und Misserfolg, von Platten-produzenten und Songautoren. Immer wieder gingen diese Bemerkungen beiläufig über in eine Anatomie der Popularkultur der USA. Gemeinsam mit den von ihm ausgewählten Songs kam so eine eigenwillige Geschichte der amerikanischen Songtraditionen zusammen.

Digital Songbook

Angelehnt an Dylans Radioshow sollen in der cartouche.-Reihe //Sessions regelmäßig aktuelle Singles und Alben besprochen, Remixes und Videos verlinkt und Ankündigungen von anstehenden Konzerten und anderen Veranstaltungen zusammengetragen werden. Ergab Dylans Sendung ein eigenes American Songbook, das in sich eine Vielzahl der populären amerikanischen Musik-traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts verband, soll an dieser Stelle ein digitales Songbook entstehen, das zeitgenössische musikalische Phänomene sammelt und reflektiert. Da wir nun schon einmal bei Dylan sind, lautet das Thema der ersten Ausgabe von //Sessions “Coversong”. Dylan selbst war ein Meister der Neuinterpretation. Auf den meisten seiner Alben finden sich Coverversionen bekannter und unbekannter Traditionals, denen er zu großen Ruhm verhalf. Auf der anderen Seite adelten Rockgrößen und Dylan-Fans wie Jimi Hendrix und The Byrds seine Songs “All Along the Watchtower” und “Mr. Tambourine Man”.

//Sessions #1: Coversong

Auf ihrer im Oktober 2010 erschienen Debüt-EP interpretierte die britische Musikerin Annika Henderson alias Anika Dylans Anti-Kriegslied „Masters of War“. Gemeinsam mit Beak>, dem Sideprojekt von Portishead-Drummer Geoff Barrow, machte sie aus dem Stück einen groovenden Dub-Song, der seine Energie aus dem eingängigen Zusammenspiel von Schlagzeug und Bass und Anikas apathischen Sprechgesang bezieht. Dabei beeindruckt vor allem, wie stark Hendersons hypnotisierende Stimme die Wirkung der mahnenden Worte Dylans verstärkt. Das Sample eines US-amerikanischen Soldaten, der über seine Erfahrungen im Irak-Krieg berichtet, verleiht dem ohnehin zeitlosen Song zusätzlich Aktualität. Die Folk-Legende ist aber nicht die einzige namhafte Referenz Hendersons. Auch Yoko Onos „Yang Yang“, Sylvia Dees „End of the World“ und Ray Davies „I go to Sleep“ verpackte sie in ihren minimalistischen Dub-Sound. Dass Henderson mit Dylan und Ono zwei für die Bürgerrechts- und Friedensbewegung so zentrale Figuren auf ihrem Album featured, betont ihre politische Seite. Privat engagiert sich die Sängerin seit einiger Zeit schon in der amerikanischen Menschenrechtsgruppe The Innocence Project, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern bemüht. Zur Zeit ist die Sängerin auf Tour durch Europa, am 24. Mai wird sie in Festsaal Kreuzberg auf der Bühne stehen.

Links: tumblr / bandcamp / last.fm

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Ähnlich hypnotisierend wie Anikas eindringliche Dub-Songs klingt die Inter-pretation der Videokünstlerin Pipilotti Rist des Chris Isaak Songs „Wicked Game“. Statt pathetischen Machogesangs gibt es bei Rist verträumtes Gesäusel und hysterisches Geschrei. Mitte der 90er-Jahre aufgenommen, hat die Interpretation ihre Aktualität nicht eingebüßt. Im Gegenteil ähnelt Rists Lo-fi Sound dem vieler angesagter Dreampop-Acts: Wie Beach House, Soundpool und Memoryhouse setzt Rist auf Reverb-Effekte, lahmende Rhythmen und reverb-beladene Gitarrenriffs. Ihre Coverversion, der sie den programmatischen Titel „I am a victim of this song“ gab, nutzte sie für mehrere Installationen. Zum ersten mal kam das Stück 1995 in einem gleichnamigen Video zum Einsatz, wo es die verwackelten Innenaufnahmen eines Restaurants komplementierte. Das Lied war nicht der erste musikalische Ausflug der erfolgreichen Künstlerin. Von 1988 bis 1994 war Pipilotti Rist Mitglied der Band und Performance-Gruppe Les Reines Prochaines, mit der sie auch einige Platten veröffentlichte.

Links: homepage

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Anlässlich ihrer gemeinsamen Tour durch Europa haben die englischen Bands Porcelain Raft und Yuck eine Split-EP veröffentlicht, für die sie jeweils ein Lied des anderen coverten. Ihr Sound ist state of the art. Während die Musik von Yuck in der Tradition des wieder in Mode gekommenen College-/Indierock der 80er- und 90er-Jahre steht, knüpft Porcelain Raft Mastermind Mauro Remiddi nicht nur klangästhetisch an den Bedroom-Pop der letzten Jahre an. Wie Pat Grossi alias Active Child und Ernest Greene aka Washed Out produzierte auch Remiddi seine ersten EPs komplett auf eigene Faust. Die Übersetzung der Songs in den jeweiligen anderen Soundkontext klingt überzeugend: Verwandelt Remiddi die an Dinosaur-Jr erinnernden Punkgitarren von Yucks „The Wall“  in eine noisige Sägezahn-Fläche, befreien Yuck das Piano in  „Despite Everything“ von seinen schwadigen Filtern und Effekten. Ähnlich gelungen war schon die Remix-EP der beiden amerikanischen Chillwave-Acts Washed Out und Small Black, die sie im Vorfeld ihrer gemeinsamen Europa-Tour auf Lovepump veröffentlichten.

Links: download / porcelain raft / yuck

//Manifest

Der Einschnitt, den die Popmusik gegenüber früheren kulturellen Medienformaten darstellt, ist, dass die Leute aus einem Angebot von miteinander konkurrierenden Medien und Formaten etwas zusammensetzen. Sie kennen eine Stimme, öffentliche und inszenierte Bilder, dazu kommt schließlich die Genauigkeit von Studioaufnahmen. All diese Aufnahmen, Recordings, Dokumente und Spuren von Individualität und Pseudo-Individualität werden von Rezipienten gewichtet, verworfen, fetischisiert und zu Sinnkonstellationen zusammengefügt. […] In der Popmusik gibt es keine Instanz, die aus dem Auftauchen von Musikern und Stars im Fernsehen, auf Schallplatte oder auf der Bühne eine Einheit herstellt. Ganz zu schweigen von den Inhalten, die transportiert werden, ist Popmusik eine ziemlich diffuse und inhomogene Produktion.

Mit diesen Worten beschrieb Poptheoretiker DIEDRICH DIEDERICHSEN in Ausgabe #320 von SPEX die Besonderheit der Popmusik. Seit Beginn des digitalen Zeitalters, das mit der flächendeckenden Verbreitung von Breitband-Internetanschlüssen begann, ist der Rezipient gefragter denn je. Jeden Tag laden Bands ihre Lieder auf MYSPACE oder SOUNDCLOUD, verlinken Mp3-Blogs wie das vor kurzem geschlossene MAGISKA Download-Links zu den neuesten Alben, schreiben BloggerInnen wie HENNING von NO FEAR OF POP über ihre Lieblings-Neuentdeckungen. Die daraus resultierende Unübersichlichkeit erschwert nicht nur die persönliche Gewichtung, sondern verlangt zugleich deutlich mehr Aufmerksamkeit.

Schluss mit Ohnmacht

Aber was ist mit den Musikmagazinen, die bisher die notwendige Filter- und Kontextualisierungsfunktion übernommen haben? Sie sind von der Geschwindigkeit und der Datenfülle des Internets schlichtweg überfordert und können deshalb keinen verlässlichen und umfassenden Überblick über das aktuelle Musikgeschehen mehr garantieren. So geschah es, dass CHILLWAVE bis Ende 2010 immer noch ein Fremdwort für deutsche Zeitschriften war, obwohl die Musik von WASHED OUT, TORO Y MOI und NEON INDIAN, die sich hinter diesem Begriff verbirgt, schon im Spätsommer 2009 für große Furore in den einschlägigen Musikblogs wie PITCHFORK sorgte. Der Grund für diese Verspätung dürfte unter anderem in der Abhängigkeit der eben genannten Magazine vom hiesigen Musik- und Anzeigenmarkt liegen. Die Frage, ob über und in welcher Form über eine Platte berichtet wird, hängt nicht zu letzt davon ab, ob eine Anzeige geschaltet wird oder nicht. Da viele amerikanische KünstlerInnen ihre Platten gar nicht in Deutschland veröffentlichen, fallen sie einfach durch das Raster der Musikzeitschriften. Diese Entwicklung ist nicht nur ärgerlich. Sie geht auch diametral mit dem auseinander, was Medien eigentlich leisten sollen: Ihre LeserInnen unabhängig informieren.

Der Mangel an Formaten, mit denen der Geschwindigkeit und der Subjektivität des Internets begegnet werden kann, stellt ein weiteres wesentliches Problem der Musikzeitschriften dar. Alle etablierten Magazine setzen nach wie vor auf Rezensionen, die Objektivität suggerieren, in letzter Konsequenz aber lediglich den Geschmack ihrer AutorInnen spiegeln. Wen aber interessiert es noch, ob ein ALBERT KOCH die aktuellste KAISER-CHIEFS-Platte mag oder nicht? Niemand ist mehr auf die Meinung von MusikjournalistInnen angewiesen. Einzig das Magazin SPEX versuchte mit seinem diskursiven POP-BRIEFING, sich dem Problem zu stellen. Das Format ermöglichte drei bis vier Einstiege in eine Platte. Man war nicht mehr an die Meinung einzelner AutorInnen gebunden, sondern fand gleich mehrere Argumente für oder gegen ein Album. Gleichzeitig rückte der argumentative Charakter des POP-BRIEFINGS den Subtext der besprochenen Platten in den Vordergrund. Umso trauriger ist es, dass SPEX nach dem Rücktritt von MAX DAX das Format umgehend aus dem Heft entfernte.

Der Verfall der Musikmagazine steht exemplarisch für einen Umbruch, dessen vollständiges Ausmaß heute immer noch nicht absehbar ist. Fest steht, dass das Internet nicht nur die alteingesessenen Institutionen der Musikindustrie wie Magazine oder Labels in Frage stellt, sondern auch Formate, Produktions- und Arbeitsweisen: Der einzelne Song ist wieder wichtiger als das Album, die Qualität von Homeproductions kann sich mit der professioneller Tonstudios messen lassen, die Allverfügbarkeit diversester Musiken lädt zum Sampeln und Rekontextualisieren ein.

Mehr als ein digitaler Kleiderschrank

Auch in der Modewelt hat das Internet seine Spuren hinterlassen. Der Erfolg von Streetstyle-Blogs wie FACEHUNTER wäre ohne Standleitung nicht denkbar gewesen. Von den kleineren Nischenmagazinen wie FASHION THEORY oder VESTOJ und den Modeseiten der SPEX einmal abgesehen, vermisst man jedoch eine flächendeckende intellektuelle Auseinandersetzung mit den neuen Modeformen und ihren Einflüssen. Das ist schade, hielt Modedesigner RICK OWENS doch erst vor kurzem fest, dass die Mode die Kunst inzwischen intellektuell überholt habe (Spex #328).

Die etablierten Modemagazine erwecken nicht gerade den Eindruck, sich dieser Aufgabe stellen zu wollen. Sie begnügen sich damit, Hochglanz-Fotostrecken abzudrucken oder eine neue Trendfarbe auszurufen. Dabei unterscheiden sich die redaktionellen Beiträge sprachlich kaum von den vielen Werbeanzeigen, die gemeinsam mit den Duftproben der Marke XY die inhaltliche Leere der Magazine kaschieren.

Leider leisten Modeblogs hier auch keine Abhilfe, fungieren die meisten doch maximal als eine digitale Erweiterung des eigenen Kleiderschranks oder gleich als Catwalk. Natürlich gibt es ein paar nette Blogs wie LESMADS, die zeitnah auf aktuelle Trends aufmerksam machen und über den neuesten Gossip der Modewelt informieren. Blogs, welche die Phänome Street- und Retrofashion in ihrem Wesen analysieren, sucht man allerdings vergebens.

Neue Filter

Es braucht hierzulande also neue und unabhängige Plattformen, die in der Lage sind dort anzusetzen, wo andere versagen. CARTOUCHE. ist der Versuch, diese Lücke auszufüllen und all jene anzusprechen, die sich für eine tiefgründigere Analyse aktueller Phänomene in der Mode und der Musik interessieren. Die beiden Sphären sollen aber nicht nur unabhängig voneinander behandelt werden. Im Gegenteil besteht der Anspruch von CARTOUCHE. darin, Querverbindungen herzustellen und aufzuzeigen. Schließlich gehören Mode und Musik spätestens seit ELVIS PRESLEY untrennbar zusammen.