Mix

Der Berliner DJ FITZKARRALD hält nichts davon, mit dem Laptop aufzulegen. Er bevorzugt Vinyl. „Das macht viel mehr Spaß“, sagt FITZKARRALD, der mit bürgerlichem Namen WARREN O’NEILL heißt. Weniger anstrengend sei es obendrein, da die Auswahl beim Auflegen von vornherein viel kleiner sei. Die Liebe für Vinyl ist aber nicht das einzige, was FITZKARRALD auszeichnet. Hinzu kommt seine außergewöhnliche Musikauswahl. In seinen Sets lässt der Wahlberliner verschiedene Epochen der Tanzmusik Revue passieren, angefangen mit Disco über New Wave bis House. Alles scheint hier möglich zu sein, das Resultat klingt immer großartig. Zu FITZKARRALDS musikalischen Vorbildern zählen THEO PARRISH und DEZ ANDRES, an denen er ihre Liebe zur Musik besonders schätzt. Für CARTOUCHE hat der aufstrebende DJ nun einen House-Mix zusammengestellt. 

Links: Soundcloud

Empfehlung

„She’s like Britney at this point. I’m just a stooge”. Besser als JASPER BAYDALA, Mitarbeiter des Labels ARBUTUS RECORDS, hätte man den Hype um CLAIRE BOUCHER aka GRIMES nicht auf den Punkt bringen können. Seitdem die Kanadierin im März ihr drittes Album Visions auf dem renommierten britischen Label 4AD veröffentlicht hat, reißen sich alle um sie. An BOUCHER heranzukommen scheint momentan ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, sodass selbst gute Freunde wie BAYDALA da nicht weiterhelfen können.

Doch ist der Rummel um die Musikerin berechtigt? Um es vorweg zu nehmen: Ja, das ist er in der Tat! CLAIRE BOUCHER hat mit Visions eines der wegweisendsten Alben der vergangenen Jahre aufgenommen. Die Musikerin aus Montreal kommt aus dem Umfeld des Labels ARBUTUS RECORDS und des bereits geschlossenen Musiklofts LAB SYNTHÈSE. Auf ARBUTUS RECORDS erschienen ihre ersten Alben Geidi Primes und Halfaxa, im LAB SYNTHÈSE spielte sie ihre ersten Shows, der Gründer beider Institutionen, SEBASTIAN COWAN, ist ihr Manager. Eigentlich war sie zum Studium nach Montreal gekommen, doch als GRIMES immer mehr Resonanz bekam, schwänzte sie die Kurse, bis sie irgendwann von der Uni flog.

BOUCHERS Musik ist glücklicherweise weit weniger klischeebehaftet. Ganz im Gegenteil ist das Besondere an der Kanadierin, dass ihr Sound schwer einzuordnen ist. Es wirkt genialistisch, wie sie 90’s-Ravesynthies mit asiatischen Harmonien kombiniert. Wer nun aber denkt, die Musikerin mache bizarre Weltmusik, der irrt. BOUCHERS Songs strahlen eine hypnotisierende Düsternis aus, die Witchhouse und Goth-Hörer_innen nicht unbekannt sein dürfte. Sie lässt die meisten Witchhouse-Künstler_innen jedoch links liegen, da sie es im Gegensatz zu ihnen schafft, richtige Songs zu schreiben.

BOUCHER selbst bezeichnet ihre Musik als „Post Internet”. Die treffendere Bezeichnung wäre „Cybertechno”. GRIMES macht elektronische Musik, die ein verworrenes Dickicht aus verschiedensten Zitaten und Stilen ist. Sie profitiert von den offenen Archiven des Internets, von dem einfachen und schnellen Zugang auf Musikstile aus der ganzen Welt. In dem Moment, in dem man denkt, man habe das System GRIMES durchschaut, wird man von der Sängerin eines besseren belehrt.

Das liegt auch an ihrem ausgefallenen Songwriting. Die Kanadierin hat ein Händchen für die richtigen Melodien. Zuckersüß können diese sein, eingängig sind sie allemal. Doch anstatt simple Popsongs zu komponieren, bastelt BOUCHER lieber komplexe Gebilde. Immer wieder bricht der Beat los, um in der nächsten Sekunde zu stoppen, einem Pianoriff zu weichen oder sich in eine Fläche aufzulösen. Es gibt Momente, da überlappen sich die Tonspuren, ein Durcheinander aus verschiedenen Stimmen entspinnt sich, hier eine ein Technoriff, dort ein Ravebass. Wenig später sind ein Breakbeat und eine Synthiefläche alles, was BOUCHERS Elfenstimme begleitet. Dass ihre Songs in der Regel nur aus einer einzigen Akkordfolge bestehen, fällt da gar nicht weiter auf.

Schon auf ihrem 2010 erschienen Erstlingswerk Geidi Primes reihte sich ein brillianter Song an den anderen. Auf Visions hat sich daran nichts geändert, nur wirken die Lieder auf ihrem neuesten Album wie aus einem Guss und weniger verspielt. Die düster wabernden Techno-Bässe, die reverbüberladenen Synthie-Flächen und BOUCHERS Stimme harmonieren perfekt miteinnander. Auch ist es der Musikerin gelungen, ihren Gesang weiter zu verfeinern, der sich auf Visions von all seinen Facetten zeigt: Mal ist ihre Stimme ein zartes Hauchen, mal ein jammerndes Jaulen, mal ein druckvolles Schreien. Dabei erreicht sie oft Höhen, die man sonst nur aus chinesischen Opern kennt.

Was über all dem schwebt, das ist BOUCHERS Sinn für die richtige Ästhetik. Alles was die kanadische Musikerin macht, hat einen starken Wiedererkennungswert. Das gilt sowohl für ihre Musik als auch für ihre Videos. Während sie sich im Video zu „Crystal Ball” als schwarz gekleidete Waldhexe mit einem turmhohen Hut auf dem Kopf präsentiert, sitzt sie im Clip zu „Oblivion” in der Umkleide-Kabine eines Footballstadions umgeben von durchtrainierten Männerkörpern und hüpft mit einer Gruppe euphorisierter Fans auf der Tribüne.

Es besteht kein Zweifel: CLAIRE BOUCHER hat das Zeug dazu, richtig groß zu werden. Größer noch als BRITNEY SPEARS. Denn was BOUCHER der ehemaligen Ikone unzähliger Teenager voraus hat, sind ihr Charme und ihre Lockerheit. Chapeau Miss BOUCHER!

Links: Arbutus Records / Free Download Geidi Primes & Halfaxa

Gespräche

Der Bart ist das erste, das einem an CHRISTOPHER KLINE auffällt. Struppig ist er, blond und so üppig, dass man das Gesicht des schlaksigen Musikers aus New York dahinter nur noch erahnen kann. Nicht minder bemerkenswert sind CHRISTOPHERS Liveshows. Wenn er auf die Bühne klettert und sich in HUSH HUSH verwandelt, ist der sonst eher zurückhaltende Musiker nicht mehr zu bändigen. Angespornt von Discosounds aus seinem IPOD singt er in höchstem Falsett, verrenkt dabei seinen Körper in den undenkbarsten Winkeln, springt auf Boxen herum und robbt auf Knien durchs Publikum. 2006 kam CHRISTOPHER nach Berlin, spielte seitdem in mehreren Bands und betreibt gemeinsam mit seiner Freundin SOL die Galerie KINDERHOOK & CARACAS und den Verlag FEATHER THROAT. Im Chat mit CARTOUCHE sprach der umtriebige Künstler über sein Leben in Berlin, sein Projekt HUSH HUSH und die Notwendigkeit, seinem Publikum das gewisse Extra zu geben. 

CHRISTOPHER, herzlich willkommen im ETHERPAD!

CHRISTOPHER: Vielen dank, das Pad ist cool, ich benutze es heute zum ersten Mal!

ETHERPAD ist ein Online-Textprogramm, an dem mehrere Personen gleichzeitig arbeiten können. Aber ist es nicht komisch für dich zu chatten? Wir hätten uns auch treffen und uns bei einer Tasse Kaffee unterhalten können.

Ich kann mich mit beidem arrangieren. Meine Ideen sind in der Regel aber besser strukturiert, wenn ich sie aufschreibe. Außerdem scheint das Pad etwas „realer“ zu sein als ein richtiger Chat, weil du mir dabei zuschauen kannst, wie ich jeden einzelnen Buchstaben in das Pad eingebe.

Das stimmt. Auf FACEBOOK bekommt man immer nur die fertige Nachricht. Der Schreib- oder Denkprozess bleibt aber im Verborgenen. Bist du ein FACEBOOK-User?

Ich würde nicht so weit gehen, mich als FACEBOOK-User zu bezeichnen. Zwar habe ich seit zwei Jahren einen Account. Den benutze ich aber vor allem dafür, meine Shows und Ausstellungen anzukündigen oder Musik zu empfehlen. Mit meinen FACEBOOK-Freunden habe ich bis heute noch nie gechattet. Auch wenn ich versuche FACEBOOK zu meiden, verbringe ich dennoch viel Zeit im Internet – eine lästige Beschäftigung.

Warum?

Ich brauche es für meine Projekte. Das Internet ist der schnellste Weg, um Dinge zu organisieren und mit Leuten zu kommunizieren. Trotzdem weiß ich, dass das Internet nicht alles kann. Auch wenn die Welt immer virtueller wird, ist der Kontakt mit Menschen in der realen Welt immer noch der Aspekt, der darüber entscheidet, ob dein Projekt erfolgreich ist oder nicht. Leute zu treffen, Teil einer Community zu sein und auf Tour zu gehen ist gerade am Anfang extrem wichtig. Für kreative Menschen ist es daher unabdingbar in einer großen Stadt zu leben.

Ist das der Grund, warum du nach Berlin gekommen bist?

Nicht wirklich. Mich reizt an Berlin, dass man hier sehr gut an Ideen arbeiten kann. Das liegt vor allem daran, dass der Konkurrenzdruck in Berlin nicht sehr groß ist. Ironischerweise ist das aber nicht nur positiv. Im Gegenteil kann einem die Lockerheit Berlins schnell das Genick brechen. Auf einmal sind drei Jahre um und man hat nichts geschafft von dem, was man sich ursprünglich vorgenommen hatte.

Ich glaube, das Problem kennen viele. Wie ist es dir ergangen?

Ich habe nicht viel Zeit verplempert. Seit meinem Umzug nach Berlin 2006, habe ich vieles ausprobiert: Ich betreibe die Galerie KINDERHOOK & CARACAS sowie den Verlag FEATHER THROAT, habe in verschiedenen Bands gespielt und mehrere Bildbände publiziert.

Wann hast du mit HUSH HUSH angefangen?

HUSH HUSH begann als Fingerübung im Sommer 2009. Um mich von meinen ernsteren Musikprojekten abzulenken, nahm ich mehrere Loops mit meiner Loopstation auf, die ich mit meinem alten Drumcomputer, einem Casio-Keyboard und einigen Gitarren einspielte. Sechs Monate ließ ich diese Aufnahmen ruhen, bis mich eines Tages die Band YEASAYER in einer Mail fragte, ob ich nicht mit ihr auf Tour gehen wollte.

Und das wolltest du.

Richtig! Sie sind schließlich gute Freunde von mir, deren Arbeit ich sehr schätze. Ich dachte kurz darüber nach, mit welchem Projekt ich antreten wollte und entschied mich für die Loops, die ich ein halbes Jahr vorher aufgenommen hatte. Bis zur Tour blieben mir nur drei Wochen Zeit. Ich arbeitete Non-Stop, überlegte, was ein guter Popsong braucht und welchen Charakter ich auf der Bühne verkörpern wollte. Ich verlor damals fast den Verstand, schlief wenig, war dann aber sehr zufrieden mit dem Resultat.

Was braucht denn ein guter Popsong?

Ein wirklich außergewöhnlicher Popsong muss sich gut einprägen können. Das bedeutet, dass er eine traditionelle Liedstruktur haben muss, einen originellen Sound, eine gute Stimme und Worte, von denen sich die Leute angesprochen fühlen. Dann ist da noch dieser Funke, der schwer in Worte zu fassen ist, der aber einen guten von einem schlechten Popsong unterscheidet. Ich habe mir eine Menge Pop und Hip-Hop-Songs angehört, um das herauszufinden. „What’s Going On?“ von MARVIN GAYE habe ich mir mindestens zwanzig mal hintereinander über Kopfhörer angehört.

Wovon wurde dein Bühnencharakter beeinflusst?

Von den Queens und Kings des Showbusiness – MADONNA, IGGY POP, JAMES BROWN, TINA TURNER, ANDY KAUFMAN und KATE BUSH. Das sind Leute, die ihrem Publikum das gewisse Extra geben. Sie haben verstanden, dass es wichtig ist, sein Publikum zu respektieren. Deshalb lege ich mich auch so sehr ins Zeug, selbst wenn ich nur vor ein paar Leuten spiele.

Hattest du denn überhaupt eine Wahl? Schließlich stehst du ganz allein auf der Bühne und kannst dich nicht hinter einer Band verstecken.

Da hast du wohl Recht. In anderen Bands bin ich viel zurückhaltender. Da ich aber nur meinen IPOD als Unterstützung habe, muss ich mir überlegen, wie ich die Leute in den Bann ziehen kann. Das bedeutet, dass ich viel mehr tanzen muss, als ich es tun würde, wenn ich einen Drummer und eine Band hätte, die mir den Rücken stärken. Alle Verantwortung liegt bei mir, ich habe nichts zu verlieren und kann nur gewinnen.

Deine Liveshow ist State of the Art. Ich habe in Berlin in letzter Zeit viele Künstler gesehen, die sich ihrem Publikum allein gegenüberstellten, mit nichts anderem als ein paar Playback-Sounds oder einer Gitarre. Was ist der Grund dafür?

Ich finde es wesentlich entspannter solo aufzutreten. Wenn ich jetzt auf Tour gehe, muss ich nichts weiter mitnehmen als ein Sportsakko und meinen IPOD. Davor hatte ich immer mit so vielen Dingen zu kämpfen: dem vielen Equipment sowie den Terminkalendern, Ambitionen und Problemen meiner Bandmitglieder. Dennoch sind Solo-Projekte eine triste Angelegenheit. Es ist schwieriger sich zu motivieren, alles ist so unsozial und selbstzentriert, ganz zu schweigen von der Energie, die in Kollaborationen steckt. Ich habe auch eher das Gefühl, dass diese Soloprojekte ein Berlin-Ding sind. Die Leute ziehen sich in den Wintern immer so sehr zurück, kein Wunder also, dass sie auch allein Musik machen.

Weißt du schon, wie du dein erstes Album gestalten willst?

Daran arbeite ich gerade. Vielleicht mache ich ein Live-Album draus, um die Energie meiner Shows einzufangen. Ich könnte mir vorstellen, es wie TOM WAITS zu machen, der zu den Aufnahme-Sessions für Nighthawks at the Diner ein paar Leute in sein Studio einlud, um vor ihnen zu spielen. Vielleicht stelle ich aber auch ein Mixtape zusammen mit all meinen bisherigen Demo-Aufnahmen, unveröffentlichten Songs und neuen Singles darauf. Wo befindest du dich eigentlich im Augenblick? Ich bin in in meiner Galerie und lausche den Geräuschen, die SOL mit ihrem Tacker im Nachbarzimmer macht. Sie zieht gerade eine neue Leinwand auf.

Links: HUSH HUSH / KINDERHOOK & CARACAS / FEATHER THROAT

Foto: MATTHIAS HEIDERICH

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LAUREL HALO – Quarantine & King Felix

„Words are just words / Words are just words / That you soon forget.” Mit diesen Zeilen endet Quarantine, das jüngste Werk der New Yorker Künstlerin LAUREL HALO, das ganz offiziell als Erstling firmieren darf, waren es in den vergangenen zwei Jahren doch lediglich einige EPs und eine Reihe von Remixen, mit der die in Michigan in Rufweite Detroits aufgewachsene Musikerin auf sich aufmerksam gemacht hatte.

Jedoch täte man ihr unrecht, betrachtete man jenes Frühwerk lediglich als zufällige Ansammlungen voneinander isolierter Tracks: Schon mit King Felix, Hour Logic und Antenna hatte HALO klar gemacht, dass es ihr nie um den Song an sich gehen würde, sondern immer um etwas darüber Hinausweisendes, um ein Konzept, welches den einzelnen Track zu transzendieren vermag. Auf King Felix im Jahr 2010 war das solider und sehr zeitgeistiger Elektropop, die EP bestand aus „Songs“ im traditionellen Sinne, getragen von Halos glockenklarer Stimme, die, wie sie nie zu verstecken versuchte, mithilfe von Autotune in der korrekten Tonlage gehalten wurde und die mit genug Hall und Echo soweit verfremdet worden war, dass man die Autorin nicht mehr unbedingt als sie selbst erkennen konnte. Antenna versammelte beatlose Meditationen, Synthesizer-Spielereien, Klangexperimente im eigentlichen Sinne, zusammen gehalten nur durch die schiere Wucht von HALOS Vorstellungskraft.

Hour Logic schließlich, im Sommer 2011 fast zeitgleich mit Antenna auf  dem Hipsterlabel der Stunde HIPPOS  IN TANKS erschienen, verdeutlichte dann erstmals das ganze Potential einer außergewöhnlichen, ja wahrscheinlich einzigartigen Künstlerin. Die größtenteils ohne Vocals erschaffenen Tracks negierten die Grenze zwischen Synthpop, hypnagogischer Psychedelik und Spielarten eher klassischer Tanzmusik wie Techno oder House so konsequent, dass nicht mehr ganz deutlich war, zu welcher Gelegenheit man solch höchst intellektuelle Musik eigentlich hören sollte: Tanzmusik, zu der man nicht tanzen konnte, hypnotische Musik, zu vertrackt und hektisch zur Kontemplation. So blieb nur die Auseinandersetzung. All dies kam noch einmal verstärkt zum Ausdruck im Titelstück, einem neunminütigen Monster, einer Apotheose des Techno, einem Track, der aus rein theoretischem Interesse die Bedingungen der Möglichkeit von Tanzmusik auszuloten schien: einem Prolegomenon einer jeden künftigen elektronischen Musik. Mit anderen Worten, Kunstkacke.

„Words are just words / Words are just words / That you soon forget.” Nun also Quarantine, LAUREL HALOS Debütalbum. Und erneut ist ihr keineswegs an Erfolgsrezepten gelegen, stattdessen wurde wieder, schon wieder, scheinbar der Reset-Knopf gedrückt. Wo King Felix mithilfe von HALOS Popsongs erschuf, wo Antenna mäandernde Studien entwarf, und wo Hour Logic die Grenzen des Techno überschritt, überall dort setzt Quarantine erst an, die vergangenen Ideen und Konzepte zugleich aufnehmend und schroff verwerfend. Plötzlich ist HALOS Stimme wieder im Vordergrund, schmerzhaft im Vordergrund mag man versucht sein zu urteilen, schließlich wurde diesmal auf den Einsatz technischer Hilfsmittel so gut wie ganz verzichtet. Kein Autotune, kein Hall verwandeln die stimmlich nicht ausgebildete und bisweilen unsichere Musikerin in eines dieser makellosen, entmenschlichten Wesen, die die Charts bevölkern und an deren musikalischer Duktus schon allzu vertraut klingt, so sehr, dass ein Vortrag wie hier: glasklare Vocals, oft ein paar Hertz über oder unter der „richtigen“ Frequenz, ungefiltert und ohne offensichtliche Effekte produziert, fast wie ein Affront erscheint.

Zumal die Mischung ebenfalls bemerkenswert ist: Der Gesang dominiert fast sämtliche Tracks, die sparsame Instrumentierung, zumeist eine größere Menge übereinander gelagerter Synth-Flächen, bleibt weit im Hintergrund, Beats sind so gut wie überhaupt nicht zu vernehmen und fungieren, wenn überhaupt, nicht als übergeordnete Strukturierung, sondern nur als subtile Unterstützung des vorhandenen, von Stimme und der oszillierenden Stimme Frequenz der Synths gehaltenen Rhythmus. Worte, so wird beim Hören schnell klar, sind eben nicht nur Worte, zumal in der Popmusik. So wie hier hat man Worte wohl noch nicht vernommen. Ob wir sie allerdings schon bald wieder vergessen haben werden, das wird sich erst zeigen. LAUREL HALO, soviel ist einmal mehr überdeutlich geworden, ist eine Suchende, und sicher wird ihr nächstes Werk einen erneuten Bruch mit überkommen Strukturen erzeugen, und vermutlich wird sie erneut zu überwältigen wissen.

Ein deutlicher Hinweis war bereits Spring, jene überaus faszinierende EP, die nur wenige Wochen vor Quarantine erschienen ist, und auf der sich drei von vier Tracks mit demselben gefilterten Orchester- Sample beschäftigen, mit Stukturen des Techno, House und Footwork spielend – eine EP, die unter dem Namen King Felix erschien, nicht LAUREL HALO, um mehr künstlerische Freiheit zu ermöglichen, wie sie mir kürzlich erzählte. Wer nach vier so unterschiedlichen Werken dennoch das Gefühl hat, andere Namen annehmen zu müssen um sich kreativ ausleben zu können, der ist, soviel scheint sicher, noch lange nicht am Ende angekommen.

Erschienen ist Quarantine bei HYPERDUB, jenem Londoner Label, das von vielen ausschließlich mit Dubstep und anderen Varianten des britischen Underground in Verbin- dung gebracht wird, das aber schon immer jenseits des Tellerrandes wegweisende Musik zu suchen bereit war. Und wegweisend, nichts weniger und nichts anderes ist Quarantine.

Links: Blog / Soundcloud

HENNING LAHMANN ist der Kopf hinter NO FEAR OF POP und schreibt auch sonst hier und da über Musik

Artwork: HYPERDUB

 

Gespräche

Das australische Duo CIVIL CIVIC spielt atemberaubende Instrumentalmusik. Über verzerrte Bassläufe und Punkriffs legen die beiden Freunde AARON CUPPLES und BENJAMIN GREEN Melodien, die eingängiger nicht sein könnten. Ihre 2010 erschienene Single „Less Unless“ schlug in der Blogosphäre ein wie eine Bombe. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Band mit Rules ihr Debütalbum. Dieses hat eine ganz eigene Entstehungsgeschichte. Nicht nur, dass es zum Großteil via Email geschrieben wurde, waren es die Fans, die das Mastering und die Pressung mitfinanzierten. Im Gespräch mit CARTOUCHE zeichneten die beiden Freunde die Entstehung ihres Erstlingswerks in allen Einzelheiten nach und berichteten, auf welche Weise sie bei ihrer Arbeit vom Web 2.0 profitieren. 

BEN, AARON, wie habt ihr euer Debütalbum Rules geschrieben? Ihr lebt ja nicht einmal in derselben Stadt. BEN, du wohnst in Barcelona und AARON, du in London.

BEN: Die Distanz stellte kein großes Hindernis dar. Statt zu jammen schickten wir uns Song-Ideen in Form von Audio-Dateien hin und her. Das waren in der Regel fast fertige Songs, zu denen der andere seinen Part hinzufügte, vorausgesetzt das Demo gefiel ihm.

Rules wurde von euren Fans mitfinanziert. Wie kam es dazu?

AARON: Wir wollten unser Album auf Vinyl veröffentlichen, hatten aber nicht das notwendige Geld dafür. Deshalb fragten wir unsere Fans, ob sie nicht Interesse an einem Vinyl-Exemplar von Rules hätten und ob sie bereit wären, drei Monate im voraus dafür zu bezahlen. Den Spendenaufruf posteten wir bei FACEBOOK, das Geld sammelten wir über die Crowdfunding-Plattform INDIEGOGO.

BEN: Die Resonanz war umwerfend! 200 Leute spendeten Geld, was uns die Möglichkeit gab, das Album in einem professionellen Studio mastern zu lassen und die Pressung von 2000 Schallplatten und CDs zu finanzieren.

Und wir habt ihr die Kosten für das Tonstudio und das Artwork gedeckt?

AARON: Das brauchten wir nicht. Wir nahmen das Album in BENS Schlafzimmer auf. Das war im Sommer 2011 während des Festivals PRIMAVERA SOUND in Barcelona. Am Tag spielten wir die Bassparts ein, in der Nacht gingen wir feiern!

BEN: Das Plattencover haben wir ebenfalls selbst entworfen. Rules ist zu 100% made by CIVIL CIVIC.

Warum habt ihr euch dazu entschieden, die Produktion selbst zu stemmen? War es, weil ihr keine Labels mögt? Oder habt einfach keins gefunden?

BEN: Wir haben uns nicht nach einem Label umgeschaut, weil es nicht notwendig war. Schließlich sind wir beide in Tonstudios aufgewachsen und wissen daher, wie man Musik aufnimmt. Warum hätten wir da den Weg über ein Label gehen sollen? Das machte für uns keinen Sinn, zumal es uns nur unnötig Geld gekostet hätte.

AARON: Dennoch wäre es manchmal schön ein Label zu haben, das uns dabei hilft unser Album zu bewerben. Im Gegensatz zu etablierten Labels haben wir weder das Geld noch die notwendigen Kontakte, um eine große Werbe- kampagne anzustoßen. Das ist auch der Grund, warum wir soviel touren: Wir müssen unser Album promoten.

Das könnte auch eine PR-Agenur übernehmen. Sind Labels überhaupt noch notwendig?

AARON: Das denke ich schon, vor allem für Bands, die weder über das nötige Kapital noch über die Fähigkeiten verfügen, die man braucht, um ein Album in Eigenregie produzieren zu können.

Wäre es ohne die Möglichkeiten des Web 2.0 so einfach gewesen, 200 Leute für die Vorfinanzierung zusammen zu bekommen?

BEN: Das wäre bestimmt irgendwie gegangen, es wäre aber der reinste Albtraum gewesen! Früher war für eine derartige Aktion ein gewisser Bekanntheitsgrad oder eine umfangreiche Mailing-List notwendig.

An welcher Stelle habt ihr noch vom Web 2.0 profitiert?

BEN: Bei der Produktion unserer Musikvideos. Die Videos, die wir für CIVIL CIVIC gemacht haben, bestehen zum Großteil aus Material, das wir bei YOUTUBE gerippt und anschließend neu zusammengefügt haben. Der gelungenste Clip ist das Video zu „Run Overdrive“. AARON hat da wirklich ganze Arbeit geleistet.

Ihr nutzt also die stetig wachsenden Archive des Netzes. Wie sieht es mit Blogs aus?

AARON: Blogs haben uns sehr geholfen! Einen Großteil unserer Hörerschaft haben wie über die vielen großen und kleinen Musikblogs erreicht, die positive Kritiken über uns geschrieben haben.

BEN: Wir hatten großes Glück! Es gibt eine Menge Bands, die ihre Musik an hunderte Blogs schicken, ohne dass diese über sie schreiben. Unsere Single Less Unless hingegen wurde kurz nach ihrer Veröffentlichung von einigen Blogs aufgegriffen und weiterempfohlen. Am Ende schrieben hunderte von Blogs über unsere Musik.

AARON: Musikblogs haben über die letzten Jahre extrem an Bedeutung gewonnen. Viele Musikmagazine schreiben von ihnen ab, Labels nutzen sie für die Talentsuche. Alles wurde auf den Kopf gestellt.

Ihr scheint von den neuen Verhältnissen auf allen Ebenen zu profitieren.

AARON: Es sieht ganz so aus. Manche Leute sagen, die Welt sei in den letzten zehn Jahren sehr komplex geworden. Das mag stimmen. Auf der anderen Seite ist die Welt aber auch ein großes Stück zusammengewachsen. Viele Barrieren, die vorher unüberwindbar schienen, sind verschwunden. Man muss nicht mal mehr in derselben Stadt wohnen, um ein Album zu schreiben. Das ist eine tolle Sache!

FOTO: CIVIL CIVIC 

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